VON MUSIK, KÜHEN UND STAREN
Gerade lese ich, dass die Hochschule der Künste in Bern gemeinsam mit dem Burgdorfer Tierarzt und Käseproduzenten Beat Wampfler vorhaben, besseren Käse durch Musik zu produzieren. Ab Herbst soll Käse aus dem Emmental während des Reifungsprozesses mit Mozarts Zauberflöte beschallt werden. Auch Hiphop, elektronische Klubmusik und Songs von Led Zeppelin kommen zum Einsatz. „Wir sind überzeugt, dass es funktioniert“, frohlockt Wampfler.
Die Geschichte ist nicht ganz neu. Kühe geben mit Musik mehr Milch! geisterte schon vor Jahren als Headline durch die Gazetten. So war damals beispielsweise von einer Großstudie von Psychologen der University of Leicester zu lesen, im Rahmen derer Kühen tagtäglich zwölf Stunden lang Musik verschiedenster Stilrichtungen vorgespielt worden war. Und siehe da, die Tiere reagierten und gaben im Vergleich zu denjenigen die leider ohne Musik auskommen mussten deutlich mehr Milch.
Allerdings wirkte nur ruhige und entspannende Musik. Der Hit aber war Beethovens Pastorale, seine sechste Symphonie in F-Dur. Eine Musik, die sich (wie ihre Tonart) ganz der Natur verdankt und den Hörer mit sich aufs Land nimmt. Wobei es Beethoven nun wahrlich nicht um Lautmalerei ging, obwohl tatsächlich Vogelstimmen vorkommen – die Flöte imitiert die Nachtigall, die Oboe die Wachtel, und die Klarinette den Kuckuck. Und dennoch „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ soll Beethoven zu seiner Symphonie gesagt haben. Bei Drucklegung nannte er sie Pastoral-Sinfonie oder Erinnerungen an das Landleben. Welch wunderbare Konstellation – Empfindungen, die mit den Erinnerungen an ein Leben in der Natur musikalisch Wirklichkeit werden. Erwachen heiterer Empfindungen bei Ankunft auf dem Lande ist der erste Satz überschrieben. Folglich macht es Beethoven dem Hörer auf seiner inneren Reise durch idyllische Landschaften nicht allzu schwer und lässt ihn erst einmal in der Natur ankommen, bevor er ihn mit heiteren Empfindungen erfüllt und ihn in der Musik aufgehen lässt.
Natürlich gibt es auch ein veritables Gewitter mit mächtig dreinfahrenden Blitzen, das nicht nur alle Natur von der drückenden Schwüle befreit und ihr Erfrischung bringt, sondern auch dem Hörer, dem die wunderbare Entspannung frische Gefühle und freie Gedanken schenkt, mit denen er sich ganz der Bewegung hingeben kann.
Ruhig und entspannt ist der zweite Satz der Symphonie – Szene am Bach hat ihn Beethoven überschrieben. Die Musik dazu soll er tatsächlich an einem Bach komponiert haben, behauptet sein Zeitgenosse Anton Schindler und zitiert den Komponisten aus dem Gedächtnis: „Am Schreiberbach habe ich die Szene am Bach geschrieben. Und die Goldammern da oben, die Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke ringsum haben mitkomponiert.“ Und möglicherweise auch eine Geliebte, wer weiß? Szenen am Bach waren damals beliebt.
Auf Debussy hingegen muss der zweite Satz wohl eher abturnend gewirkt haben: „Sehen Sie sich die Szene am Bach an“ schrieb er. „Es ist ein Bach aus dem allen Anschein nach Kühe trinken. Jedenfalls veranlassen mich die Fagottstimmen, das zu glauben.“ Wahrscheinlich kannten die Psychologen der University of Leicester Debussys Auslassung und spielten ihren Versuchskühen gerade deshalb das Murmeln des Bachs vor.
In diesem Zusammenhang aber gibt es noch eine verrücktere Geschichte, die 2010 in Dortmund spielt: Damals startete das dortige Konzerthaus eine von dessen Werbeagentur Jung von Matt initiierte Kampagne, die glatt unter dem Motto MUSIK FÜR WIRKLICH ALLE! hätte rangieren können. Denn im Rahmen dieser Aktion reiste das Orchester des Konzerthauses stante pede zu einem Bauernhof aufs Land, um dort exklusiv für Kühe nicht etwa die schon in Leicester erprobte Szene am Bach von Beethoven, sondern stattdessen eine Symphonie von Haydn in Es-Dur zur Aufführung zu bringen. Welche der elf Es-Dur-Symphonien es allerdings war, die Haydn von insgesamt einhundertdrei komponierte, wird leider nicht erwähnt. Hoffentlich war es nicht die Nummer 22, die den Titel Der Philosoph trägt, denn die wäre mit Sicherheit selbst den Kühen zu hoch gewesen.
Und dennoch, nicht nur Kühe, sondern auch andere Tiere reagieren positiv auf Musik, wie sollte es auch anders sein? Musik kann eine Droge sein und wohl alle Lebewesen verzaubern. Man stelle sich nur einmal vor, wie erstaunt manche Waldesbewohner wären, wenn sie statt eines ordentlichen Gewitters urplötzlich das aus Beethovens Pastorale hören würden. Vermutlich wären sie zunächst völlig verwirrt und verlören für Augenblicke das Gleichgewicht, weil sie, nach oben blinzelnd, in nichts als einen blaublauen wolkenlosen Sommerhimmel sähen, gleichzeitig aber tiefes Donnergrollen und heftige Blitzeinschläge um sich herum hörten wie bei einem richtigen Gewitter. Dann aber, da bin ich mir sicher, würden sie gebannt innehalten, wenn sie mit einem Mal den fünften und letzten Satz der Symphonie mitbekommen würden, der unmittelbar aufs Gewitter folgt – schwebende und alles besänftigende Klänge nämlich, die Beethoven Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm nannte. Eine Musik, die sich wie ein ungeahnter Zauber über die Landschaft legte und ein Jedes zum Staunen brächte. „Die Zeit verstreicht langsam, die Musik wirkt abgeklärt, wie von einer tiefen inneren Ruhe erfüllt“, schreibt der Beethoven-Biograph Jan Caeyers. „Kaum eine Themenentwicklung, es fehlt der Sog in eine bestimmte Richtung.“ Glücklicherweise, möchte man antworten, denn eine Musik, die keinen Vektor kennt, befreit die Welt von ihrer Zeitlichkeit. Wie im Nu löst sie das Zeitempfinden des Hörers auf und versetzt ihn in sanft betäubende Ruhe – davon wusste schon Novalis ein Lied zu singen.
Auch Stare lieben solch kosmische Musik, wie ich selbst schon mehrfach beobachten konnte. Werden die witzigen Vögel bei ihrem Professorengang über die Wiese urplötzlich von Musik überrascht, die vom Haus durch offene Fenster zu ihnen in den Garten herübertönt, halten sie irritiert inne, trippeln dann aber in Etappen neugierig näher heran, als wollten sie sich das Ganze einmal genauer anhören. Minutenlang hocken sie da im Gras und lauschen.
Die Musik, die ich bei der ersten Beobachtung einer solchen Szene zufällig hörte, war The Unanswered Question von Charles Ives. Ein Orchesterstück, das den Staren offenbar die Sinne raubt, wie ich bei kleinen Experimenten in der Folge ein jedes Mal feststellen konnte. Kaum, dass ich sie im Garten draußen erblickte schlich ich leise zur Stereoanlage und legte Ives’ Musik auf. Und prompt rückten sie, so wie ihre Artgenossen es vorher auch schon getan hatten, nahe heran und hörten vor den offenen Fenstern eine Weile interessiert zu, als würden sie verstehen. Beethoven hingegen, der vor allem Kühe aufhorchen lässt, hatte die gegenteilige Wirkung: Die Stare gerieten schnell unter Druck und flogen kopfschüttelnd auf und davon.
Vielleicht liegt das an der hohen Intelligenz dieser Tiere. Denn im Grunde ist Ives’ Komposition eine hochphilosophische Musik, die drei unterschiedliche Haltungen des Seins anhand dreier Instrumentalgruppen thematisiert: Da sind zunächst die Streicher des Orchesters, die „immerwährend dreifaches Pianissimo in striktem ruhigen Tempo“ spielen und „das Schweigen der Druiden repräsentieren, welche nichts wissen, sehen und hören“, erklärt der Komponist in der Vorrede zu seiner Partitur. Die Solotrompete hingegen intoniert mehrfach „die immerwährende Frage nach dem Sein“, die letztlich aber unbeantwortet bleibt. Denn die Flöten, die „wie die Menschen“ verzweifelt versuchen, immer „aktiver und schneller und lauter“ auf die richtige Antwort zu kommen, müssen letztlich „die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens“ erkennen, wobei ihnen am Ende nichts anderes mehr übrigbleibt, als die Frage nach dem Sinn des Lebens nur noch resigniert „nachzuäffen“.
Über all dies aber scheinen sich Stare furchtbar zu amüsieren. Kichernd reiben sie sich am Ende des Stücks die Schnäbel und plustern sich so gestelzt auf wie die törichten Flöten die in allem einen Sinn sehen wollen. Stare aber haben gut reden, sie leben im vollkommener Einheit mit der Natur und müssen sich um solch dämliche Fragen nicht kümmern.
Es ist sicher kein Zufall, dass Mozart in Stare vernarrt war. Denn wie diese, so hatte auch er Humor. Und zwar den des gleichen Schlags. Er verhalf ihm dazu, die Dinge des Lebens todernst und gleichzeitig auchheiter nehmen zu können – gleichsam distanziert und doch mitten drin wie die Stare. Eine Art kosmischer Humor, in dem die Dinge sich aufzulösen beginnen, aber ihr Wesen behalten. Mit dieser nachgerade göttlichen Gabe mussten die stahlblau gefiederten Professoren geradezu zwangsläufig Mozarts Aufmerksamkeit auf sich ziehen, vor allem aber auch dann, wenn sie zackig durchs Gras marschierten und dabei seine Melodien zu ihm herüber pfiffen.
Mozart ließ sich nicht lumpen und griff zu: Am 27. Mai 1784 erwarb der damals 28-Jährige für 34 Kreuzer seinen Vogel Stahrl, wie er seinen Star fortan nannte und der für drei Jahre sein getreuer Gefährte werden sollte. Dass sich Mozart mit diesem in irgendeiner Form austauschte, ja unterhielt, scheint nicht ausgeschlossen. Immerhin konnte Vogel Stahrl schon nach wenigen Wochen das Rondothema aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 17 in G-Dur perfekt pfeifen. Zwei Wahlverwandte hatten sich getroffen, die waren, was sie waren und wurden, was sie wurden – ein Körnchen Staub in Allem.
Die herzzerreißende Beerdigungsfeier, die Mozart seinem überraschend verstorbenen Vogel Stahrl ausrichtete, ist Legende, und seine Abschiedsrede, die er in Anwesenheit einer kleinen Trauergemeinde an dessen winzigem Grab hielt mehr als bekannt.
Hier ruht ein lieber Narr
Ein Vogel Staar
Noch in den besten Jahren
Mußt’ er erfahren
Des Todes bittern Schmerz ...
Die Psychologen und Tierverhaltensforscher Meredith J. West und Andrew P. King, Professoren an der Indiana University und der Duke University, gehen einen gewaltigen Schritt weiter, indem sie Mozarts Star sogar kompositorische Fähigkeiten unterstellen. So habe der Star, der bald natürlich nicht mehr nur Mozart sang, diesem zu einem Sextett verholfen, dem Musikalischen Spaß KV 453 nämlich. Nach eingehender Analyse des Stücks, experimentierten die Forscher über Jahre selbst mit Staren, die täglich engen Kontakt zu ihnen hatten. Dabei konnten sie feststellen, dass die Stare so zu großer Form aufliefen und es zu erstaunlichen Leistungen brachten. Schon nach wenigen Tagen konnten sie Kunstlieder singen oder längere Sätze nachsprechen. Und ebenso rasch vermochten sie zu lachen, zu seufzen oder zu husten, was sie sich vom Menschen abgehört hatten. Mit ihren Geräuschen von Telefon, Wecker oder rasselnden Schlüsselbunden aber nervten sie selbst die Forscher.
In diesem Zusammenhang fällt mir noch eine lustige Geschichte ein, die sich vor Jahren in unserer Nachbarschaft zugetragen hat. Eines Samstagnachmittags kürzte irgendwer zur absoluten Ruhezeit mit seinem penetrant lauten und offenkundig in die Jahre gekommenen Rasenmäher seine Wiese in der Nachbarschaft. Einer Nachbarin ging das zu weit, sie rief die Polizei. Die aber fand niemanden. Stattessen aber einen Star, der irgendwo in einem Baum saß und den Rasenmäher lauthals imitierte.
Aber zurück zum Musikalischen Spaß. „Das unlogische Zusammenstückeln der vermeintlich parodistischen Melodien entspreche ziemlich exakt der Vorliebe der Stare, musikalische Versatzstücke in ihren natürlichen Gesang einzuflechten“, schreiben die amerikanischen Forscher. Ein Charakteristikum ihrer gepfiffenen Arien seien auch die „ausgedehnten, wandernden Phrasierungen“, wie sie in diesem Sextett für zwei Violinen, Viola, Bass und zwei Hörner vorkämen. Typisch für einen Star sei zudem auch das „abrupte Ende des Stücks“, so die Experten. Ob der Star nun Mozart das Sextett in die Feder diktierte oder nicht, sei dahingestellt. In jedem Fall aber sollte der doppelten Autorschaft des Stücks Rechnung getragen werden und neben Mozart auch Vogel Stahrl als Komponist genannt werden.
Neulich, man darf es eigentlich nicht laut sagen, habe ich mich mit einer Nachtigall unterhalten. Ich saß bei offenen Fenstern am Klavier und übte, als ich sie urplötzlich draußen tirilieren hörte. Sofort unterbrach ich mein Spiel und hörte ihr fasziniert zu. Als sie nach einer Weile verstummte, imitierte ich sie spontan mit der rechten Hand im Diskant und versuchte zu antworten, woraufhin sie sich nach einigen zögernden Zwischentönen relativ rasch auf mein Spiel einließ und mit mir in eine Art musikalischen Dialog eintrat, den wir wechselseitig, einer dem anderen zuhörend und dann antwortend, immer animierter führten. Natürlich nicht bis tief in die Nacht hinein, auch Nachtigallen werden mal müde.
Wie das Experiment im Berner Oberland mit dem Käse und der Zauberflöte allerdings ausgehen wird ist offen. Obgleich bei genauerer Betrachtung auch in diesem Fall Lebewesen mit im Spiel sind und nicht nur Materie wie man auf Anhieb denken könnte. Schließlich befinden sich Säure bildende Bakterien im Rohkäse ohne die dieser gar nicht zum richtigen Käse heranreifen könnte. Und genau auf diese Bakterien haben es die Berner Experimentatoren abgesehen und erhoffen sich von diesen eine entsprechend dankbare Reaktion, wenn sie bei ihrer anstrengenden Arbeit schon gratis von schöner Musik begleitet werden. Schließlich soll mit Musik alles besser gehen. Und vor allem auch leichter.