AHNUNG UND ZUFALL
Teil 3
Völlig übernächtigt und entkräftet liege ich endlich im Bett und versuche einzuschlafen. Doch es will mir nicht gelingen. Meine Verwirrung, dass das verfluchte Bild jetzt auf einmal eine Fotografie sein soll, wo dieses für mich doch weiterhin ein Aquarell ist, weil es sich dergestalt in meinem Kopf eingebrannt hat, ebbt einfach nicht ab. Zudem aber haben sich meine zähflüssig um sich selbst kreisenden Gedanken nun auch meines Körpers bemächtigt, der sich unter deren widerlich bleiernen Last hochnervös und ungelenk im Bett hin und her zu wälzen beginnt. Und damit scheint sich der abscheuliche Albtraum, der mich bald beim Schopf packen und meine Seele schwer in Mitleidenschaft ziehen wird, bereits anzukündigen. Mir wird Hören und Sehen vergehen, wovon ich allerdings noch keinen blassen Schimmer habe.
Dabei fängt alles noch relativ harmlos an: Denn mit einem Mal sehe ich mich wieder an jenem Herbstnachmittag im Wohnzimmer auf meinem Sessel sitzen, während ich das mich faszinierende Bild aus der Zeitung heraustrenne. Soweit, so gut. Schließlich hatte ich mir diesen Erinnerungsfilm ja auch selbst wieder aus meinem Gedächtnis hervorgekramt, weil mein Gehirn wieder einmal nicht mitspielen wollte und die Arbeit verweigerte.
Doch als ich das Bild unten im Wohnzimmer endlich aus der Zeitung herausgetrennt habe, hält das Geräusch zerreißenden Papiers überraschenderweise an und will einfach kein Ende mehr nehmen. Zu allem Übel aber schwillt es auch noch an, schraubt sich unerbittlich in ekelhafte Tonhöhen hinauf und geht schließlich in ein widerwärtiges ohrenbetäubendes Sirren über, das gemein die Luft zerschneidet und meinen Kopf beinahe zum Platzen bringt. Hilflos verkrieche ich mich unter der Bettdecke.
Aber auch im Wohnzimmer da unten bin ich offenbar diesem Psychoterror ausgeliefert, springe ebenso hilflos vom Sessel auf und sehe mich nach allen Seiten hin um, um die Quelle des Irrsinns ausfindig zu machen. Doch das wird mir da unten nicht gelingen, denn das nervtötende Sirren kommt einzig und allein aus meinem Kopf hier oben im Bett. Es ist, als schrie mein Gehirn und höre nicht mehr auf.
Als ich mich aber im Wohnzimmer mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Verandatür eilen sehe, um mich der rätselhaften Attacke zu entziehen, ereilt mich ein Heidenschreck: Denn plötzlich bemerke ich, dass sich der Garten draußen fatalerweise in die bizarre Landschaft des Bildes verwandelt zu haben scheint: In nichts anderes als in dessen überdimensionales, räumlich weit ausgedehntes Gelände, das mir auf einmal höchst zwielichtig vorkommt. Doch so sehr ich mich auch anstrenge, mich unten im Wohnzimmer davor zu warnen, ins Freie zu stürmen, es will mir einfach nicht gelingen. Offenbar kann ich mich da unten nicht hören.
Als ich mich aber die Tür zum Garten aufreißen und nach draußen ins Unheilschwangere der schwarzdichten Nebelschwaden stürzen sehe, die bereits das Haus umzüngeln, springe ich panikartig aus dem Bett und haste über die Treppe hinunter ins Wohnzimmer mir nach. Und als ich währenddessen das verdammte Bild nicht mehr auf der Kommode liegen sehe, erfasst mich plötzlich unbändige Angst, weil ich nun zu wissen glaube, dass das alles kein Zuckerschlecken wird.
Dann bin ich auch schon mittendrin im Schlamassel, und bewege mich unsicher auf schwankendem Grund, sodass ich manchmal strauchele und beinahe hinfalle. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, irgendetwas zu erkennen, sehe ich doch nichts als ein unwirklich flirrendes, indigoblaues Leuchten um mich herum – ein Licht, das in keinen Dingen wohnt, denn Dinge scheint es in dieser Welteinsamkeit hier nicht zu geben. Es ist totenstill, als sei alles in Watte gepackt. Nur eine sanfte Brise weht aus dem Ungefähren zu mir herüber, die seltsamerweise nach Meeresluft riecht, obwohl mein Haus nun wirklich nicht am Wasser liegt
Ich traue meinen Augen nicht – in der Ferne glaube ich auf einmal ein Licht zu sehen. Und als ich mich diesem vorsichtig nähere, wird mir bald klar, dass es aus einem Fenster eines einsam daliegenden Hauses kommt, dessen durchscheinende Silhouette ich im indigoblauen Dämmer aber nur erahnen kann. Offenbar ist es der einzige Raum im Haus, der beleuchtet ist. Er muss im ersten Stock liegen.
Als ich mich aber endlich an das eigenartige Haus herangepirscht habe, halte ich inne und kneife meine Augen etwas zu, um besser sehen zu können und erschrecke, weil ich da oben im Zimmer auf einmal eine Person sitzen sehe. Oder ist es nur deren Schatten an der Wand? Ich bin mir nicht sicher. Mehrfach rufe ich Hallo! und will auf mich auf aufmerksam machen, aber nichts scheint sich zu rühren. Mein Rufen verklingt offenbar ungehört im Raum. Dabei hätte mich diese ominöse Person doch eigentliche hören müssen – das Fenster steht ja sperrangelweit offen.
Aber es hilft nichts, ich muss wissen, wer sich da oben aufhält. Der wird mir sicher weiterhelfen können. Da ich aber nicht weiß, wie ich ins Haus gelangen soll, da dieses keine Eingangstüren zu haben scheint, schaue ich mich ratlos um, und entdecke zu meinem Großen Glück bald einen alten knorrigen Baum, der – blätterlos und einsam – direkt neben dem Haus in den diffusen Himmel hineinwächst.
Ohne weiteres Überlegen pirsche ich mich an das alte Gewächs heran, als dieses mir mit einem Mal wie sein eigener Schatten vorkommt. Deshalb klopfe ich erst drei Mal aufs Holz, als ich schließlich neben ihm stehe, will ich doch bevor ich hochsteige erst einmal wissen, dass ich auf keine Luftnummer hereinfalle. Allerdings bemerke ich bei all der Aufregung, die mich plötzlich erfasst hat, nicht, dass mein Klopfen keinerlei Ton von sich gibt und ohne Resonanz geblieben ist. Also ahne ich nichts und erklimme behände den Baum.
Und dennoch, irgendetwas stimmt nicht. Irritiert halte ich inne und schaue skeptisch zur Seite, wo gerade ein kleiner Ast abbrach, den ich zufälligerweise streifte, ohne dass dieser irgendein Geräusch von sich gegeben hatte. Und als ich selbst einen weiteren Ast umknicke, durchfährt mich blankes Entsetzen, weil die Welt offenbar stumm geworden ist. Wohl deshalb hatte man mich vorhin auch nicht gehört. Das stumme Bild hat mich in einen Stummfilm versetzt. Vor lauter Angst klettere ich weiter nach oben, um wenigstens sehen zu können, wer sich dort hinter dem Fenster aufhält.
Als ich endlich in Höhe des hellbeleuchteten Zimmers angekommen bin, schaue ich in Deckung des knorzigen Geästs neugierig hinein, und rutsche auf dem dicken Ast, auf dem ich mit dem einen Bein stehe, vor lauter Schreck beinahe aus. Denn hinter dem Fenster sehe ich mich mit einem Male selbst am Klavier dasitzen und offenbar hochkonzentriert ein Stück üben. Das Klavier selbst kann ich natürlich nicht hören. Doch an den Noten, die ich selbst aus der Entfernung relativ gut erkennen kann, wird mir schnell klar, dass es sich um Bachs Klavierkonzert in f-Moll handelt. Ein Konzert, das ich damals mit achtzehn mit dem Schulorchester zur Abiturfeier aufführen sollte.
Lange Zeit sitze ich still auf dem vermeintlichen Schattenbaum und lausche der Musik. Denn am Spiel meiner Finger dort hinter dem Fenster vermeine ich die Musik tief in meinem Inneren erklingen zu hören. Nie fühlte ich mich weiter von mir entfernt, als in diesem Moment. In Rufweite zwar, doch ohne jegliche Chance, mit mir in Kontakt kommen zu können. Schweißgebadet wache ich auf. Der Morgen dämmert. Und die Vögel singen.
Ende von Teil 3