GESELLSCHAFT / 10
CHINA – DER MENSCH DER ZUKUNFT?
Der Mensch scheint aus der Spur geraten. Wie ein Besinnungsloser überzieht er den Globus mit Chaos. Es scheint ihm egal zu sein. Der Mensch kann nicht anders, er war schon immer so! schnarren die Defätisten. Dem Unberechenbaren sei nicht über den Weg zu trauen, Büchner hätte recht: Der Mensch ist ein Abgrund: Es schwindelt einen, wenn man hinabsieht.
Wird der Mensch eines nicht allzu fernen Tages von der Bildfläche verschwunden sein, weil er sich selbst zum Verhängnis wurde? Oder hat er doch noch eine Chance hier auf dem Erdenrund? Stephen Hawking meint nein. Zumindest nicht auf der Erde, die der Mensch bald zugrunde gerichtet hätte. Seine Zukunft läge im All – irgendwo auf einem Exoplaneten. In fünfhundert bis tausend Jahren sollte er spätestens soweit sein, dorthin aufbrechen zu können, wenn nicht vorher Schlimmeres passiere und er untergehe. Des Menschen größte Gefahr sei er selbst!
Wenn man Hawkings Szenario zu Ende denkt, wird einem schwarz vor Augen, ist der Mensch doch seiner Einschätzung zufolge völlig unfähig, in Einheit mit der Natur zu leben und zerstöre seine Lebensgrundlagen, indem er seinen Heimatplaneten ruiniere und letztlich unbewohnbar mache. Wäre dies der Fall, sollte er schleunigst das Weite suchen, um auf einem Ersatzplaneten zu überleben, es sei denn, er besäße die entsprechende Technologie dazu. Eine Rakete wird nicht reichen. Und dann? Dann müsste er irgendwann weiterziehen und zum nächsten Planeten aufbrechen weil er ja auch diesen zugrunde gerichtet hätte – planet hopping als Ultima Ratio.
Ganz im Gegensatz zu Hawking fallen die Prognosen der KI-Experten für den Menschen weit positiver aus und prophezeien ihm dank superintelligenter Maschinen auch weiterhin ein durchaus zukunftsträchtiges Leben auf Erden. In seinem neuen Buch „Leben 3.0: Mensch sein im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ unterteilt der Physiker Max Tegmark die Evolution des Menschen in drei Stufen und folgt damit Ray Kurzweil – dem gegenwärtigen Director of Engineering bei Google. Die biologische Stufe (Leben 1.0) versteht er als erste Phase der menschlichen Evolution, die Hard- und Software hervorbrachte. Auf der kulturellen Stufe (Leben 2.0), also der gegenwärtigen Phase, entwickle sich die Hardware weiter, während sich die Software selbst entwickle. Auf der technologischen Stufe (Leben 3.0) schließlich gestalteten sich Hard- und Software selbst. "Kein Lebewesen erreicht eine Lebensspanne von einer Million Jahren“, merkt Tegmark an. „Niemand kann sich das Gesamtvolumen der Wikipedia merken, alle bekannten Wissenschaften erlernen oder eine Reise ins Weltall ohne ein Raumschiff antreten." Deshalb benötige das Leben ein „endgültiges Upgrade“. Das Leben 3.0 „wird sein eigenes Schicksal meistern und endlich vollständig von seinen evolutionären Fesseln befreit sein", davon ist Tegmark überzeugt.
Starke Worte! Aber wem von beiden soll man nun glauben? Liegt des Menschen Zukunft womöglich im All oder wird sich der Egomane hier auf Erden mithilfe eines endgültigen Upgrade eines Tages doch noch zu ungeahnter Form aufschwingen?
Werfen wir einen Blick auf Tegmarks Leben 2.0, das ja für unsere Gegenwart steht. Denn manchmal zeichnen sich in solchen Zeiten bereits Tendenzen ab, die erst viel später in ihrer ganzen Tragweite erkannt werden, wenn diese schließlich die gesamte Gesellschaft erfasst haben. Vielleicht gibt es ja auch in unserer Gegenwart Anhaltspunkte, die uns der Beantwortung der Frage, wohin die Reise des Menschen denn gehen könnte, wenigstens etwas näher bringen?
Gegenwärtig leben wir in der Ära des Individuums. Seine atemberaubende Geschichte beginnt in der Renaissance vor etwa 500 Jahren, dem Beginn der Neuzeit, wie die Historiker sie nennen. In einer Zeit also, da sich der Mensch, der sich bis dahin immer nur durch Kollektive definiert hatte, mit einem Mal als individuelles Wesen begreifen lernt, das sich anschickt, sich selbst auf die Schliche zu kommen: Erkenne dich selbst! Was diesen evolutionären Charaktersprung wirklich auslöst oder im Grunde bedingt ist – trotz aller Theorien darüber – bis heute nicht klar. „Mit voller Macht erhebt sich das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches“, schreibt Jacob Burckhardt. Das Ideal eines frei denkenden und handelnden Menschen kommt in die Welt. Ein offener und aufgeklärter Charakter betritt die Bühne, der sich aber – angespornt vom unbedingten Willen zur Selbsterkenntnis – bald auch als einen ganz anderen kennen lernen muss – unauslotbar in seinen unergründlichen Tiefen und letztlich unberechenbar. Dabei aber auch zu allem fähig – im guten wie im bösen Sinne.
Auf dem Weg zu seiner Befreiung von allen äußeren und inneren Fesseln ist sich der Mensch immer fremder statt vertrauter geworden und – ungeachtet allen Wissens und technologischen Fortschritts – sich mehr und mehr zum Rätsel. Verwirrt treibt er dahin, orientierungslos dem Lauf der Dinge scheinbar ausgeliefert, einer angstbesetzten Zukunft entgegen. Verloren im inneren Chaos seiner Selbstungewissheit, die ihn mehr und mehr an sich zweifeln lässt und anfällig dafür macht, von außen manipuliert zu werden, obwohl er nur Rat sucht.
Die Geschichte des Individuums neigt sich ihrem Ende entgegen, das ist offensichtlich. Die Individualität des Menschen bröckelt und fragmentiert – verzweifelt sucht er nach Halt und Ersatz: Der ratlos in sich hineinstarrende Mensch – eine Szene, die ihm gleichsam zur Urszene seines Daseins geronnen ist. Ihm, der sich in Wahrheit von Anfang an nie ganz geheuer war.
Vom einst so selbstgewiss vorwärts drängenden Individuum ist nicht mehr viel übrig geblieben. Das atemberaubende Spektrum seiner vormals so bunten und vielgestaltigen Erscheinungsformen hat mächtig an Leuchtkraft eingebüßt. Dabei verflacht es zusehends und engt sich immer mehr ein. Der Mensch hat seine Zukunft verloren und tendiert zur Uniformität – scheinbar hilflos, aber hinsichtlich seiner inneren Disposition doch konsequent, drängen ihn niedrigste Instinkte zu den mentalen Extremen hin ab: Die einen werden immer ungehemmter und dreister, die anderen hingegen stetig ängstlicher und zwanghafter. Und während die Ersteren dazu neigen, schnell auszurasten und draufloszuschlagen, flüchten die Letzteren kopflos in den Turbomassenkonsum, wo sie verzweifelt den Restposten ihrer Individualität hinterherjagen als sei diese Prêt-à-porter.
Die Gesellschaft zerfällt in zwei hochneurotische, scheinbar antagonistische Charakterklassen, die sich in Wahrheit aber in ihrer rigiden Grundhaltung durchaus entsprechen, eint beide doch eine tiefe innere Unzufriedenheit dem Leben gegenüber, die sich nur unterschiedlich Luft verschafft: Die einen explodieren, die anderen implodieren. Zwei für unsere Gegenwart nachgerade prototypische Charakterhaltungen, die eine seelische Zweiklassengesellschaft zu formen beginnen und hinsichtlich ihrer Phänomenologie den zukünftigen Massenmenschen bereits erahnen lassen – ruppig, gefühllos und aggressiv. Und von Außen statt von Innen gesteuert
Der Mensch schwächelt. Seine inneren Widerstandskräfte schwinden und liefern ihn schutzlos den knallhart durchökonomisierten Lebensbedingungen aus, die ihn in die Knie zwingen und letztlich für seine innere Schwäche verantwortlich sind – ein fataler Circulus vitiosus, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Der Markt blüht, das Sinnhafte des Daseins schwindet und lässt Denken und Fühlen des Menschen verkümmern. Der Restsinn fällt durchs Raster seiner schwächelnden Wahrnehmung und pulverisiert mit der Zeit.
Subjekt und Markt konvergieren auf fatale Art und Weise und lassen die Strategien und Kampagnen der Industrie mit den Wünschen und Begierden der Menschen nachgerade identisch werden: Wer kaufen soll, kauft! In den Köpfen herrschen die Gesetze des Marktes. ONLINE-SHOPPING lautet die ultimative Devise. Der blindwütige Konsumismus scheint das einzige zu sein, was die Gesellschaft noch zusammenhält. Die verzweifelten Rufe nach mehr Empathie und Solidarität verhallen in den Residuen des öffentlichen Raums, den die Menschen längst verlassen haben, abgewandert in den Cyberspace, in dem die Sphären ihrer neuen Realität verortet sind.
Das Internet ist die gegenwärtig extremste Variante des psychosozialen Ausverkaufs: In ihm aber die Ursache der fortschreitenden Polarisierung der Gesellschaften und die Verflachung von Denken und Fühlen der Menschen erkennen zu wollen, ist falsch! Beruhen diese Radikalisierungs- und Entfremdungsprozesse doch in Wahrheit auf den endemisch verdinglichten Lebensverhältnissen, die zusehends die Gemüter der Menschen trüben und ihr Wesen verflachen lässt. Das Internet verstärkt und beschleunigt diese Prozesse in vehementer Weise – ein in seiner wahren Dimension für Mensch und Gesellschaft überaus brisanter Effekt, an den der Erfinder des World Wide Web, Tim Berners Lee, am CERN 1989 sicher nicht dachte, der mit diesem eine „Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung“ initiieren wollte, die „den allgemeinen Zugang zu einer großen Sammlung von Dokumenten“ ermöglichen sollte. Und doch: Wie jede andere Maschine ist auch das World Wide Web zunächst neutral, entwickelt für den schnellen und unkomplizierten Austausch wichtiger und essentieller Daten und Informationen. Wäre das Internet in den neunziger Jahren auf eine wirklich aufgeklärte Gesellschaft gestoßen, hätte es sich wohl nie zu jenem kollektiven Zerrbild entwickelt, den es gegenwärtig repräsentiert: Vollgestopft mit Myriaden gestanzter Bilder, die die Hirne der User fluten und das Wahrgenommene zerfließen lassen, während der nie endende Gossip, der sich in den Chatrooms der SOCIAL MEDIA breit macht, die Kommunikationsfähigkeit auf Zero herunterdimmt und nichts als Frust und Leere in den Herzen hinterlässt. Das Internet ist zum Spiegel der Gesellschaften geworden. In ihm offenbart sich die wahre Mentalität der Menschen, die sprunghaft einem Leben hinterherjagen, das sie nicht leben. Der Bürger würde immer volatiler, wirft ihm die Politik vor. Jede Wahl gliche mittlerweile einem Paforceritt. Die Politik muss sich nicht wundern: Der Cyberspace formt mehr und mehr das Verhalten der Bürger, das zusehends auch in der Realität zum Ausdruck kommt. LIKES und DISLIKES beherrschen zunehmend die gesellschaftliche Wirklichkeit, die den Menschen aus den Augen zu geraten droht.
Dass das Internet das Bespitzelungsinstrument par excellence geworden ist, ist dem Bürger natürlich klar. Das aber scheint ihm völlig egal zu sein. Er will doch nur konsumieren, wozu er Lust hat, und chatten, mit wem er will. Und diese Freiheit will er sich nicht nehmen lassen -– er ist süchtig nach dem Netz, in dem er sich längst verfangen hat. Dass er dabei auch sein skelettiertes Ego mit zu Markte trägt, kümmert ihn nicht, umworben von persönlich auf ihn zugeschnittenen Offerten in der Timeline, auf die er jetzt auch mithilfe von KI getriggerten Assistenten wie Alexa oder Siri zugreifen kann, die seine Sprachbefehle unterwürfig entgegennehmen und ihm für Augenblicke das Gefühl verleihen, auch Herr zu sein. Die Welt der Suggestion trocknet die Realität aus. Der Mensch scheint sich selbst aus dem Blick zu geraten. Kein Geld der Welt vermag seine seelische Armut aufzuwiegen, die ihn durchdringt. In dieser und nichts anderem gründet das Chaos, das die Welt ins Taumeln geraten lässt.
Auch die Perspektiven, die eine vernünftig gehandhabte Künstliche Intelligenz möglicherweise hätten eröffnen können, verblassen zusehends, ist diese doch zu einem Großteil bereits in Händen der Ökonomie, die gegenwärtig alles daran setzt, die Menschen vollends von den Maschinen abhängig zu machen. „Es ist viel gesagt worden über die möglichen Risiken der Künstlichen Intelligenz, aber ich sorge mich nicht um Maschinen, die denken wie Menschen. Ich sorge mich um Menschen, die denken wie Maschinen“, sagte der Apple Chef Tim Cook auf der World Internet Conference im Dezember 2017 in Wuzhen. Seit zehn Jahren geht der IQ in der entwickelten Welt zurück. So beispielsweise in Dänemark, wo seit 1998 die Werte im Schnitt um 1,5 Punkte gefallen sind wie der NewScientist berichtet.
Offenbar ist China das einzige Land, das auf das schier unbeherrschbare menschliche Chaos zu reagieren weiß und eilt den anderen wieder einmal weit voraus. Denn dort – wo bekanntlich nicht lang herumgefackelt wird – scheint man jetzt die adäquate Antwort auf das beängstigende Phänomen des aus der Spur geratenen Bürgers gefunden zu haben. Ein neu entwickeltes Sozialkreditsystem soll Abhilfe schaffen und dafür sorgen, aus ihm wieder einen Staatsbürger zu machen – ein sozial handelndes Wesen, das sich ehrlich an die gesellschaftlichen Spielregeln hält und sein Glück eigenverantwortlich in die Hände zu nehmen weiß.
Das Regelwerk, das im Grunde einen Katalog von Wiedervermenschlichungsmaßnahmen beinhaltet, ist beileibe keine weitere, vom Parteikader aus der Hüfte geschossene Disziplinierungsattacke gegen seine Bürger, sondern vielmehr die präzise Beschreibung eines nachgerade sanften Weges, der diese wieder einem besonnenen gesellschaftlichen Leben zu führen soll. In rund einem Dutzend Regionen laufen schon Tests, die die verblüffende Effizienz des neuen Sozialkreditsystems nahelegen. Das verwundert kaum, liegt diesem doch ein völlig neuer sozialtherapeutischer Ansatz zu Grunde, der den egomanischen Bürgerabweichler nicht gleich als krank brandmarkt. Die Methode erinnert an die Paradoxe Intenion, eine Therapieform, die den Patienten ausdrücklich dazu auffordert, sich genau das herbeizuwünschen, wovor er Angst hat, so soll der Teufelskreis durchbrochen werden.
Die große Angst des chinesischen Bürgers ist sicherlich die vor übergreifender Kontrolle und Massenüberwachung. Und genau diese soll dem Bürger mit einem genialen Schachzug nun genommen werden, indem es ihm freien Zugang zu all den Daten ermöglicht, die der Staat von ihm registriert und speichert, sei es über das Internet als PROFIL, oder als Bewegungsmuster im öffentlichen Raum durch GPS. Diese, jedem Bürger über eine Smartphone-App gewährte Zugriffsmöglichkeit auf BIG DATA, trägt gleichsam autotherapeutische Züge und soll den Bürger dazu anspornen, künftig ein „gesetzestreues, moralisches Wohlverhalten“ an den Tag zu legen, und sich durch „soziales Engagement und Umweltschutz“ besonders hervortun, wie der Parteikader den Bürger wissen lässt, der sich offenbar bereitwillig, ja freudig an den schon in manchen Regionen laufenden Experimenten beteiligt.
Das datengestützte Bonitätssystem ist denkbar einfach strukturiert und beruht in nichts anderem als einem Punktekatalog. Es trägt betont spielerische Züge und lehnt sich damit dem Prinzip der Gamification an, bei der spieltypische Elemente in einem spielfremden Kontext zur Anwendung kommen. Schließlich soll den Bürgern die Therapie auch Spaß machen, wenn er vorankommen und geheilt werden will.
Wie bei jedem guten Spiel gibt es Bonus- und Maluspunkte, für die der Bürger natürlich selbst verantwortlich ist. Wer beispielsweise über das Internet gesunde Babynahrung bestellt, bekommt Bonuspunkte. Wer hingegen Pornos ansieht oder seine Zeit mit Computerspielen totschlägt, muss Abzüge hinnehmen. Selbst Wohlhabende, die alleine in zu großen Wohnungen leben oder ausländische Luxusautos fahren, erhalten umgehend Minuspunkte. Aber auch Fastfoodabhängige, die unablässig übers Internet BIG MACS konsumieren kommen dran. Ebenso Erwachsene, die sich weigern, ihre Eltern regelmäßig zu besuchen, verlieren Punkte und werden dazu animiert, sich künftig verantwortungsvoll um das eigene Fleisch und Blut zu kümmern. Das aktuelle Punktekonto kann über eine Arbeitsstelle oder eine Beförderung entscheiden, das weiß der Bürger selbstverständlich, der alles daran setzt, nicht der Betroffene zu sein.
China hat praktisch ein eigenes Internet. Nur wenige Technologiegiganten aus dem Silicon Valley haben Zugang. Twitter, Facebook und Google sind gesperrt, ebenso Whatsapp und Skype. Statt Amazon dominiert Alibaba den Konsum und Baidu ersetzt Google. Einkaufen im Internet und mobiles Bezahlen sind überall möglich, ja selbstverständlich. Dank der Öffnung der Wirtschaft in nur drei Jahrzehnten hat China Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geholt. Eine größere Erfolgsgeschichte in der globalen Armutsbekämpfung ist nicht bekannt. Da scheint es nicht weiter verwunderlich zu sein, dass sich die Chinesen nicht nach einer Demokratie sehnen, die sich im Westen gerade selbst zerlegt.
Eine „Kultur der Ehrlichkeit“ soll entstehen, verkündet der chinesische Parteikader seinen Bürgern, in der Gerechtigkeit und Transparenz gefragt sind. In Shanghai, wo ebenfalls ein Testlauf gestartet wurde, darf jeder Geschäftspartner den Punktestand seines Handelspartners einsehen, um genau zu wissen, mit wem er es zu tun hat. Ein Bürger mit hohem citizen score bekommt schneller einen Kredit und seine Kinder leichter einen Ausbildungsplatz, während diejenigen, die durch gesellschaftsschädigendes Verhalten auffallen, mit ihrem Punktenscore in den Keller rauschen, nicht mehr erster Klasse Zug fahren dürfen und nur unter erheblichen Schwierigkeiten an ein Visum gelangen.
„Wenn ich bei Rot über die Ampel fahre, geht's runter mit dem Kontostand“, erklärt Zhang Jian vom Forstamt der ostchinesischen Stadt Rongcheng, wo bereits seit 2014 ein Testversuch durchgeführt wird. „Das läuft alles hier auf“, so Zhang. „Die öffentlichen Ämter sind alle verbunden. Wenn man sich in der Öffentlichkeit daneben benimmt und beispielsweise in eine Schlägerei verwickelt wird, kommt man sofort auf eine schwarze Liste. Auch meine Arbeit im Forstamt fließt in das Sozialkreditsystem ein. Wenn die Bürger mit unserem Service nicht zufrieden sind, können sie sich beschweren. Das hat dann Auswirkungen auf meinen Punktestand."
Feedback heißt die Devise für jeden einzelnen Bürger, der sich in seinem Punktestand bald spiegeln darf. Er, der Teil einer sich selbstregulierenden Gesellschaft werden soll, die die Verantwortung für das Gemeinwohl an ihn zurückdelegiert, auf den es wie in jedem funktionierenden Staat ja letzten Endes ankommt „Der Punktestand ist anfangs für alle gleich, nämlich genau 1.000“, erklärt die Beamtin An Lin, Sachbearbeiterin im Amt für Sozialkredit-Management in Rongcheng. „Diese Zahl erhöht sich dann mit der Zeit – oder wird niedriger. Die höchste Bewertung ist AAA. Dazu braucht man einen Stand von mindestens 1050 Punkten, also 50 mehr als die ursprünglichen 1.000. Dann geht es nach unten weiter mit AA und dann A und so weiter. Die schlechteste Bewertung ist D – da liegt man bei unter 599 Punkten. Die mit einer A-Bewertung stehen auf der roten, die anderen auf der schwarzen Liste. Die auf der roten Liste werden bevorzugt behandelt: bei sozialen Leistungen oder auch beim Abschluss von Versicherungen. Die aus der C-Gruppe werden regelmäßig kontrolliert und bekommen bestimmte Einschränkungen. Das kann z.B. die Kürzung von sozialen Hilfen sein. Wer in der untersten Klasse D auftaucht, qualifiziert sich nicht mehr für Führungspositionen, bekommt bestimmte Leistungen gestrichen und verliert seine Kreditwürdigkeit.“
Der sich selbst regulierende Bürger, verantwortlich sich und der Gesellschaft gegenüber – ein Traum der westlichen Demokratien, der in China Realität zu werden scheint. „In Rongcheng herrscht eine hervorragende Ordnung“, erläutert Zhang Zheng, einer der wichtigsten Strategen hinter Chinas Sozialkreditsystem. „Die Moral der Menschen hat sich durch die soziale Bewertung verbessert, sie helfen sich gegenseitig und engagieren sich für die Qualität des Zusammenlebens.“
China scheint dem Leitbild einer „harmonischen Gesellschaft“ näher zu rücken, wie Staatspräsident Xi Jinping es sich für China so inständig wünscht.
Vielleicht ist er ja schon da, der Mensch der Zukunft?