GESELLSCHAFT / 16
ALS WÄR’S EIN ZEICHEN
NOTRE-DAME, die Kathedrale des Erzbistums von Paris, steht in Flammen und die ganze Welt schaut zu: Live-Bilder in Medien und TV machen die Menschen rund um den Globus zu Augenzeugen der Katastrophe und lassen sie erschüttert und entsetzt zurück. Ein globales Lamento hebt an – eine Art lang gedehnter Twitter-Aufschrei mit dem die Erdenbürger, egal welcher Couleur oder Nation, angesichts des Desasters für Augenblicke zusammenzurücken scheinen. Was ist bloß in sie gefahren? Der Brand eines 900 Jahre alten Sakralbaus scheint sie mitten ins Herz getroffen zu haben. Warum? Die Spekulationen darüber treiben irre Blüten.
Frankreich blutet Flammen! – Oh mein Gott! Die Hölle holt Notre-Dame! titelt die Journaille am nächsten Tag und versucht aus dem Kathedralenbrand mit pseudoreligiösem Jenseitsgeschwafel medial Kapital zu schlagen. Doch die verlogenen Töne wollen nicht so recht zünden: Über Paris ist nicht urplötzlich Gottes Rache hereingebrochen. Und ebenso wenig hat der Teufel seine Krallen nach der französischen Nation ausgestreckt. Solch ein Nonsens lässt die User kalt, spielt die christliche Religion in deren Leben doch kaum noch eine Rolle.
Aber auch die Kathedrale NOTRE-DAME selbst hat sich im Verlauf ihrer langen und ereignisreichen Geschichte weit von ihrer einst so illustren religiösen und kulturellen Bedeutung entfernt und steht heutzutage nur mehr für ein relativ einsames Bauwerk aus grauer Vorzeit, das allein wegen seiner nach wie vor äußerst beeindruckenden Monumentalität zu einer der Toppattraktionen der französischen Hauptstadt zählt und jährlich von 13 Millionen Touristen auf der Île de la Cité besucht und bestaunt wird.
Dabei war es ursprünglich ein wahrhaft kosmischer Glaube, der NOTRE-DAME Mitte des zwölften Jahrhunderts Realität werden ließ. Animiert von einem Traktat, der Theologia Mystica des Dionysius Aereopagita, dem ersten Bischof von Athen im ersten nachchristlichen Jahrhundert.
Dieses Traktat inspirierte den aus einfachen Verhältnissen kommenden Mönch Suger, der im Jahre 1122 zum Abt des Klosters Saint-Denis gewählt worden war und damit auch für dessen Neugestaltung und Erweiterung Sorge tragen sollte, zu einer absolut neuartigen und bahnbrechenden Sakralarchitektur, die in der Folge als gotischer Baustil Geschichte schreiben sollte, und sich demzufolge einzig der Idee eines einzelnen Mannes verdankt.
Das im Norden von Paris liegende Kloster Saint-Denis blickte damals schon auf eine äußerst bewegte und vor allem machtpolitisch geprägte Geschichte zurück: Es war im 4. Jahrhundert über dem Grab des heiligen Dionysius von Paris – dem ersten Bischof der Stadt, errichtet worden, und diente den fränkischen Königen bereits seit dem Jahre 564 als geistig zentraler Ort und Beisetzungsstätte. Mit dem 10. Jahrhundert entwickelte sich das Kloster dann rasch zum Mittelpunkt der aufstrebenden französischen Monarchie und bildete bald den Kristallisationspunkt der Nationalidee Frankreichs, weshalb auch dessen Könige bis 1830 beinahe alle in Saint-Denis beerdigt wurden.
Gott ist Licht – das ist die zentrale Aussage der Theologia Mystica. „An diesem ursprünglichen, diesem unerschaffenen und schöpferischen Licht hat jeder teil“, so kommentiert Georges Duby das Traktat des Dionysius Aereopagita in seinem grundlegenden Buch Die Zeit der Kathedralen. (1) „So empfängt jede Kreatur die göttliche Erleuchtung, um sie selbst wieder auszustrahlen. Hervorgegangen aus einem Strahlenmeer, ist das Universum ein leuchtender Quell, der in Kaskaden herabstürzt, und das Licht, das vom höchsten Wesen ausgeht, beruft jedes einzelne erschaffene Wesen auf seinen unveränderlichen Platz. Zugleich vereinigt es sie alle. Als Band der Liebe durchflutet es die ganze Welt, versetzt sie in den Zustand der Ordnung, verleiht ihr inneren Zusammenhalt, und da jeder Gegenstand das Licht mehr oder weniger reflektiert, bringt das Strahlenmeer durch eine ununterbrochene Kette von Reflexen eine umgekehrte Bewegung in Gang, die aus der tiefsten Finsternis emporsteigt, eine Spiegelbewegung, die zum Herd des Lichts zurückkehrt.“
Dionysius Aereopagitas Vision war für Suger bald zur Obsession geworden, sodass er beim Neubau der Kirche von Saint-Denis alles daransetzte, eine Architektur ganz aus Licht zu erschaffen. So wollte er das Göttliche sinnlich erfahrbar werden lassen. Eine aberwitzige Idee, die in letzter Konsequenz ja bedeutet hätte, beim Bau der Kirche auf alle Materialität zu verzichten. Suger aber sah die Dinge offenbar wesentlich realistischer und zielte ingeniös aufs wirklich Machbare ab.
Folglich versuchte er das Mauerwerk gleichsam zum Verschwinden zu bringen indem er die Außenmauern – hinter Säulengängen im Hauptschiff, den sogenannten Arkadenzonen verborgen – so weit wie möglich nach Außen rückte, um sie den Blicken der Gläubigen zu entziehen. In den Außenmauern selbst sollten überdimensionale Buntglasfenster in überraschend filigranen Wandstrukturen dafür sorgen, den imposanten Innenraum der Kathedrale auf indirekte und magische Art und Weise mit in allen Spektralfarben funkelndem Licht zu durchfluten, so als wären dessen Sphären nicht von dieser Welt. Demgemäß sollten sich die Strahlen einer schwebenden Jenseitigkeit mit den Seelen der Diesseitigkeit in einem irisierenden Lichtermeer paaren – in ewiger Kreisbewegung und als „Kunst des Lichtspiels und seiner strömenden Ausstrahlung“. (Duby)
So wurde das Äußere des Bauwerks für Suger nachgerade zwangsläufig zur Nebensache und musste erst einmal dazu dienen mithilfe eines ausgeklügelten Stütz- und Strebewerks an den Außenseiten der Kathedrale die enormen statischen und konstruktiven Probleme seines aberwitzigen Lichtprojekts im Inneren lösen zu helfen. Schließlich träumte Suger von waghalsigen Höhen und ungeahnten Tiefen, welche die Baumeister seiner Zeit zunächst zwar vor schier unlösbare Herausforderungen stellten, sie dann aber doch bravourös obsiegen und triumphieren ließ.
Von Visionen dieser Art ist heutzutage kaum noch etwas übriggeblieben, denn das spirituelle Empfinden und Denken, in kosmischen Phänomenen Sinn und Struktur zu vermuten, scheint aus der Welt gekommen. Mit dieser tiefen Überzeugung aber führte Sugers spektakuläres Vorhaben den Glauben nachgerade intuitiv aus der klerikalen Enge eines Jahrhunderte alten, mystischen und dunklen Denkens urplötzlich aus der Finsternis mitten ins faszinierende Reich des Lichts, dessen physikalische Strahlungsenergien der Welt zu ihrer Erscheinung verhelfen und sie in all ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit erst sichtbar und erlebbar werden lässt – Gott ist Physik.
Mit Sugers kosmischem Denken kommt überraschend frischer Wind in die Geistesgeschichte: Denn allmählich befreit sich der religiöse Glaube vom Numinosen und beginnt sich in den offenen und vielgestaltigen Sphären des sich brechenden Lichts zu sonnen. Dann wird es nur mehr wenige Jahrhunderte dauern, bis sich dieses, vor allem nach dem belebten Außenraum hin orientierende Empfinden und Denken in der Renaissance in blanke Neugier und unstillbare Wissbegier verwandelt haben wird. Denn jetzt will der Mensch wissen, was wirklich hinter den Dingen steckt – angetrieben von einem Ganzheitsempfinden, das in Zusammenhängen denkt und keine Grenzen zwischen Kunst und Architektur und Wissenschaft mehr kennt.
Es ist sicher kein Zufall, dass mit der Erbauung von NOTRE-DAME in den Jahren 1163 bis 1345 nicht nur die gotische Architektur erneut für Furore sorgte, sondern auch eine ganz andere Kunstgattung, deren Quantensprung zu dieser Zeit ohne das irisierende, in allen Rosettenfarben funkelnde Strahlenmeer des Kathedralenraums nicht denkbar gewesen wäre. Denn offenbar bestachen dessen magische Schwingungen nicht nur die Augen der Gläubigen, sondern auch die Ohren der Musiker der NOTRE-DAME-SCHULE, die in der Kathedrale wirkten und angesichts der optischen Vielstimmigkeit des Wunderlichtraums mit dem Organum die mehrstimmige Musik erfanden.
Es waren die Magister Léonin und Pérotin, die im Zeitraum von 1160 bis 1250 diese bahnbrechende Erfindung zu Wege brachten. Zwei Musiker, die den bis dahin im Prinzip nur einstimmig gesungenen gregorianischen Chorälen Raum und Farbe zu geben wussten und diese mit einem Mal vielstimmig den Gläubigen in der Kathedrale zu Gehör brachten – so als sängen Raum und Licht zugleich und würden sich ineinander verschränken.
Die Prinzipien ihrer neuen Musik legten Léonin und Pérotin in ihrem Traktat Magnus liber de antifonario et graduali dar und schufen somit die wohl erste Kompositionslehre in der Musikgeschichte. Mit dieser war es nun möglich, die bislang geübte Tradition erst zu singen und dann das Gesungene aufzuschreiben, gleichsam zu entkoppeln und das, was gesungen werden sollte, in seiner präzisen musikalischen Ausgestaltung schon vorher festzulegen und zu notieren. So war mit dieser Methode mit einem Mal die Idee der Partitur geboren, eine sensationelle Erfindung, welche die Musikgeschichte fürderhin revolutionieren sollte.
Mit der Mehrstimmigkeit aber sah sich die musikalische Zunft vor ähnlich große Herausforderungen gestellt, wie die damalige Baukunst, die sich mit Sugers ingeniösen Lichtsphären urplötzlich konfrontiert sah. Ging es für die Komponisten nun doch darum, das bislang nur einstimmig Gesungene in ein vielstimmig geordnetes Miteinander zu überführen, um keine wilde Kakophonie entstehen zu lassen. Dies aber war nur möglich, wenn jede einzelne Stimme sich an übergeordneten Regeln orientierte, die für alle verbindlich sein sollten und einen harmonischen Zusammenklang so erst ermöglichen würden.
Die Kriterien für einen derartigen Abgleich der Stimmen waren Léonin und Pérotin im Grunde klar, betraf dieser doch konkret die Zeitdauer der Töne und damit deren rhythmische Aufeinanderfolge – Qualitäten also, die in der Notation der Komposition präzise verankert sein mussten. Nur so konnte es gelingen, nicht nur jeder einzelnen Stimme einen eigenen und sinnvollen Verlauf zu geben, sondern diese darüber hinaus auch sinnvoll mit all den anderen in eine koordinierte Beziehung zu setzen. Demgemäß legten die Komponisten der NOTRE-DAME-SCHULE nun zwei verschiedene Tondauern mit einem langen Wert, der Longa, und einen kurzen, der Brevis fest, wobei beide Zeitwerte jetzt in exakt bestimmter Struktur und Aufeinanderfolge für jede einzelne der Stimmen fixiert werden konnten und dementsprechend auch als Modus bezeichnet wurden. Und genau sechs solcher Kombinationsmöglichkeiten bildeten im Regelwerk als Modi das gesamte Reservoir aus denen die Komponisten bis zur wohl abgestimmten Vierstimmigkeit schöpfen konnten.
Es ist in diesem Zusammenhang nicht weiter verwunderlich, dass Léonin und Pérotin ihre geniale Architektur der Töne mit der Kathedrale NOTRE-DAME selbst verglichen: Durch die Anordnung von kurzen und langen Notenwerten in wiederkehrenden und übereinander gelegten rhythmischen Mustern sei ihre neue Musik nichts anderes als „die Ziegel auf dem Dach" dieses Bauwerks, das mit seiner äußerst beeindruckenden Gestalt in der Folge nicht nur architekturgeschichtlich ganze Epochen beflügeln sollte, sondern darüber hinaus auch mit der in ihr entwickelten Kompositionsmethode als Grundstein in die Musikgeschichte eingehen sollte
Mit dem 18. Jahrhundert aber, dem Zeitalter der Aufklärung und der französischen Revolution, gerät NOTRE-DAME ins Visier des esprit libre – einem Denken also, das sich nicht nur von schnöder Religion und falscher Tradition zu befreien versucht, sondern sich darüber hinaus auch anschickt, die menschliche Vernunft über alles andere im Leben des Menschen stellen zu wollen. In diesem Sinne werden 1728 die Buntglasfenster der Kathedrale durch ungefärbte Glasfenster ersetzt, deren Innenwände weiß übertüncht und ein Großteil der Figuren von ihren Türmen abmontiert. 1793 dann wird sie kurzerhand gestürmt, deren metallene Gegenstände ins Hotel de Monnnaies verbracht und dort eingeschmolzen, und sie selbst schließlich ohne zu zögern entweiht und zum Tempel des höchsten Wesens, der Vernunft, erklärt. Später dann gerät sie bald in Vergessenheit, dient als Weindepot und beginnt zu zerfallen.
Dann aber wird das marode und anonymisierte Bauwerk von Victor Hugo gleichsam über Nacht auf eklatante Art und Weise rehabilitiert, ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt und spektakulär neu erfunden. Denn in seinem Mittelalterroman Notre-Dame de Paris erklärt er die Kathedrale schlechterdings wieder zum Zentrum der Stadt und macht sie damit gleichzeitig zum Sinnbild einer fantastischen Vergangenheit die sich in der Gegenwart des städtischen Raums neu verankert sieht. Ein Unternehmen, welches das Bauwerk aufgrund der ungeheuren Resonanz des Romans binnen kurzem zwar zum Symbol der französischen Nation werden lässt, ihm aber in Wahrheit einen rechten Bärendienst erweist, weil es nun zu einem mehr oder weniger abstrakten Superkörper verkommt, der nur mehr für eine fiktive und pittoreske Historie steht.
Diese poetische Heiligsprechung besiegelte das weitere Schicksal von NOTRE-DAME bis in unsere Tage: Von Victor Hugos Schauergeschichte aus dem Jahre 1831 vehement beeinflusst, wurde die Kathedrale zwischen 1845 und 1855 vom Architekten Eugène Viollet-le-Duc zwar wiederhergestellt, dies allerdings ganz im Sinne ihres neuen Sozialcharakters als „ein phantasievoll dekoriertes neues Mittelaltermonument“, wie es Valentin Groebner beschreibt. (2) „Die alte Bischofskirche war von den französischen Königen zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert immer wieder neu umgebaut worden. Viollet-le-Duc ließ diese unterschiedlichen Baustufen zugunsten eines einheitlichen und buchstäblich verewigten Erscheinungsbilds verschwinden und reicherte es mit wirkungsvollen neu erfundenen Details an. Zu ihnen gehören die Wasserspeier und die pittoresken Ungeheuer auf der Balustrade des nördlichen Turms. ... Mit Victor Hugos Roman als Drehbuch und dem durch Viollet-le-Duc optimierten Originalschauplatz ließ sich der Schauereffekt von bedrohtem Alten inmitten der beschleunigten Moderne in wechselnden Medien beliebig oft wiederaufführen, bis hin zu Walt Disneys Zeichentrickfilm von Hugos Klassiker, in dem die neumittelalterlichen Ungeheuer von der Balustrade zu lustigen Unterhaltungsmonstern in Farbe mutierten. Die Restauration von Viollet-le-Ducs Skulpturen in den 1990ern haben ihnen übrigens, wie Michael Camille in seinem großen Buch über die Ungeheuer der Pariser Kathedrale gezeigt hat, nachträglich Züge ihrer amerikanischen Zeichentrickadaption verliehen.“
Und nun der Brand am 15. April 2019, den die Kathedrale aber wie durch ein Wunder überstand. Und selbstredend gibt es nun schon erste Entwürfe für deren Rekonstruktion, von denen der des Designers Mathieu Lehanneur (siehe das Bild oben) der Triftigste von allen zu sein scheint und die Frage, was die Menschen angesichts der in Flammen stehenden Kathedrale wohl weltweit bewegte, auf stupende Art und Weise beantwortet.
Denn war diese noch bis vor kurzem nichts anderes mehr, als ein uraltes und unverwüstliches Monument, das alle historischen Turbulenzen geradezu unzerstörbar überdauert hatte, verkommen zu einer geistig ausgehöhlten steinernen Kulisse, die für eine Zivilisation stand, die ewig fortzubestehen schien, so hatten die weltweiten Reaktionen auf die Flammen von NOTRE-DAME doch damit nicht das Geringste zu tun, sondern in Wahrheit eine ganz andere Bedeutung. Denn offenkundig sind diese nur vor dem Hintergrund einer mittlerweile völlig aus dem Ruder geratenen, gebeutelten und chaotischen Welt, die gehörig an den Nerven der Menschen zu rütteln scheint und diese weltweit überaus ängstlich in die Zukunft blicken lässt, adäquat zu verstehen. Düstere Empfindungen also, welche die brennende Kathedrale für Augenblicke zum Zeichen dieser überaus diffusen Ängste werden ließ und im Grunde nichts anderes besagten, als – ES BRENNT!
(1) George Duby: Das Zeitalter der Kathedralen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1985
(2) Valentin Groebner: Das nationale Superzeichen. FAS, 21. April 2019. S. 33