BEETHOVEN
Gerade sitze ich vorm Radio und höre Beethovens 5. Symphonie: Ich bin völlig verwirrt, denn nichts an dieser kommt mir mehr bekannt vor, geschweige denn, vertraut. Dabei habe ich mich mein Leben lang immer wieder mit Beethoven beschäftigt – am Klavier viele seiner Sonaten geübt und gespielt, aber auch die Partituren seiner Symphonien und seine ans Mirakulöse grenzenden Streichquartette studiert. Jetzt aber klingt nichts mehr wie zuvor. Und auch von Zuhören kann keine Rede mehr sein: Denn urplötzlich hat mich die Musik am Schopf gepackt und schleudert mich mitleidslos durch einen mir völlig unbekannten, nachtschwarzen Raum. Wo bin ich?
Wie weggetreten hocke ich in meinem Sessel, während im Radio ein Benefizkonzert zugunsten der vom Krieg gebeutelten Ukraine übertragen wird. Musiker des Bayerischen Staatsorchesters, der Münchner Philharmoniker und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks haben sich spontan zusammengetan, um gemeinsam gegen den menschenverachtenden Angriffskrieg dort zu musizieren. Gespielt wird nur Beethoven. Nach dessen Violinkonzert finde ich mich nun inmitten seiner 5. Symphonie wieder. Dabei komme ich mir vor wie ein winziges Teilchen, das zum Spielball des musikalischen Geschehens geworden ist – völlig hilflos dessen jähen Impulsen und beängstigend-schroffen Passagen ausgesetzt, und wie betäubt von dessen aberwitzigen Turbulenzen, die mich erfasst haben und durch düstere Landschaften dahinwirbeln.
Ein irrer Zustand: Mit einem Mal hat mich der Raum der Musik mit Haut und Haaren verschluckt: Deshalb ist es primär auch mein Körper, der auf die Musik reagiert wie ein Resonanzkörper, und nicht meine Ohren und meine Seele, die sonst doch die Hauptrollen spielen, wenn ich Musik höre. Jegliche Empfindung, die mich übermannt und durchströmt, ist die unmittelbare Folge einer körperlichen Sensation, die die Musik in mir bewirkt – scheinbar rein physikalische Prozesse, die bar jeden Sinns und fern aller Bedeutung auf mich einwirken wie abstrakte Kräfte und meinen Körper unerbittlich in Erschütterung versetzen. So, als wäre ich irgendein Plasmahaufen, der durch diese Energien allmählich geformt und schließlich zu Bewusstsein kommen würde.
Lassen mich die heftigen Turbulenzen urplötzlich ins Bodenlose stürzen, erfasst mich prompt unbändige Angst vor der Leere, in die ich zu stürzen glaube – nicht wissend, was im nächsten Augenblick auf mich zukommen wird. Geht es urplötzlich steil himmelwärts hinan, wird mir schwarz vor Augen, weil mich ein entsetzliches Schwindelgefühl ergreift, sodass ich auf einmal vermeine, mich im Ungefähren der mich fortreißenden Strömung für immer zu verlieren und aufzulösen. Dann wiederum schwebe ich für Momente durch überraschend idyllische Gefilde dahin, die meinen Körper sanft und liebevoll umfangen und mich erleichtert aufatmen lassen. Doch dann verebbt mit einem Mal jegliche Bewegung und kommt völlig unerwartet zum absoluten Stillstand. Nur ein dumpfes, nicht lokalisierbares Pochen ist noch irgendwo zu erahnen – es könnte auch mein Herz sein. Und ohne zu wissen, wie mir geschieht, ergreift mich plötzlich eine tiefe Melancholie und bemächtigt sich meiner wie bleierne Zeit. Ein Gefühl, das mit Traurigkeit nicht das Geringste zu tun hat, wohl aber mit der unendlichen Gleichgültigkeit des Alls, unter dessen sternefunkelndem Firmament ich mich auf einmal einsam und verlassen dahocken sehe.
Dann aber geschieht ein Wunder: Denn mit einem Mal bricht Licht in den nachtschwarzen Raum. Gleißend helles Licht, das mich nach all der Tortur ein ungeahnt-rauschhaftes Freiheitsgefühl erleben lässt. Tränen unbeschreiblicher Freude schießen mir in die Augen, die mich allerdings all das, was sich zuvor in mir ereignete, nicht vergessen lassen. Doch ich kann ohnehin noch nicht klarsehen, meine Augen müssen sich erst einmal an das mich überwältigende Licht gewöhnen. Das aber ist erst dann der Fall, als die Symphonie schon eine Weile zu Ende ist. Und dennoch: die Wirklichkeit, die ich jetzt wiedersehe kommt mir mit einem Mal völlig verändert vor. So, als stünden die Dinge zur Disposition und drängten zur Veränderung – ins Licht!
Aber leider hält dieser Zustand nicht lange an: Denn bald schon hält mich die gesellschaftliche Realität wieder in ihrem Bann. Die Musik aber hat sich in mir eingegraben und tiefe Spuren in mir hinterlassen. Hatte mich diese doch für Augenblicke durch den Kosmos der menschlichen Gefühle geschleudert – durch ein Kaleidoskop der basalen Lebensempfindungen, die keinem Menschen im Leben erspart bleiben, die jeder auf seinem Weg zum Tod durchleben wird, ob er nun will, oder nicht. Das Licht der Musik schenkte mir jedoch die Gewissheit, dass Freiheit möglich ist. Eine gemeinsame Freiheit wohlbemerkt, und nicht eine, die man sich einfach herauszunehmen gedenkt: „Pessimistisch im Gedanken vielleicht, aber erfüllt vom Optimismus des Willens.“ (Antonio Gramsci)
Und plötzlich wird mir klar, warum ich Beethovens Musik noch nie in meinem Leben so erlebte wie gerade eben: Denn es herrscht Krieg. Und dieser wirft jeden Menschen auf brutalste Art und Weise auf die existentiellen Grundbedingtheiten zurück – auf die nackten Tatsachen des Lebens nämlich, die nicht nur Freude und Glück, sondern auch Angst und Verzweiflung nach sich ziehen: Mit dem Krieg rückt der Tod dem Menschen auf die Pelle. So war auch Beethovens Zeit vom Krieg geprägt – er wusste also, warum er komponierte. Die Sehnsucht nach Freiheit bestimmte sein Leben.
Und wer weiß: vielleicht ist es ja das Schicksal des Menschen, erst mit dem Tod richtig frei zu werden? Auch davon erzählt Beethoven.
KRIEG