AHNUNG UND ZUFALL
Teil 5
Verblüfft halte ich inne – gerade ist mir eine Idee durch den Kopf geschossen, wie ich die Reise in mein Inneres alleine fortsetzen könnte. Denn das Bild vermag mir jetzt nicht mehr weiterzuhelfen, wenn es gilt, in die Abgründe meiner Erinnerungsräume abzutauchen, dies vermag nur ich allein. Dort hoffe ich endlich die Antwort auf all meine seelischen Turbulenzen zu finden, in die mich die Horrorlandschaften des vertrackten Vexierbilds gestürzt haben.
Doch nun glaube ich endlich zu wissen, was die bizarren Geschehnisse, die mich seit gestern Nacht in Atem halten, zu bedeuten haben: Ich muss unbedingt versuchen, den achtzehnjährigen Jungen da tief unten in meiner Erinnerungswelt aufzustöbern und alles daransetzen, um ihm nach all dem Hin und Her endlich in die Augen zu sehen – demjenigen also, der ich vor mehr als 50 Jahren einmal gewesen war. Nur so werde ich meine innere Ruhe wiederfinden, das spüre ich.
Wenn ich versuche, mir ihn vorzustellen, fallen mir immer nur irgendwelche banalen Geschichten aus dieser Zeit ein. Doch wie es tief drinnen in ihm wohl ausgesehen hatte, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr so genau zu sagen. Ob ich der wohl noch bin, der ich da einst gewesen war, oder mittlerweile nun doch ein ganz anderer, wer weiß?
Wie immer es aber auch sei, in dieser riskanten Begegnung liegt der Dreh- und Angelpunkt zu allem. Und wenn der Junge schließlich doch noch mitbekommt, dass ich seinem Zimmer, in dem er bei offenem Fenster gerade ein Klavierkonzert von Bach übt, direkt gegenüber auf einem Baum hocke, wird er schon reagieren, da bin ich mir sicher. Doch wie, das ist die große Frage? Werden wir uns beide überhaupt noch etwas zu sagen haben, oder uns nur sprachlos anstarren, weil wir das Gefühl haben, uns wie Fremde gegenüberstehen? Das Allerschlimmste aber wäre es, wenn der Junge mit mir partout nichts mehr zu tun haben wollte und mich kurzerhand zum Teufel jagen würde. Die Nackenhaare stellen sich mir auf, wenn ich an solch gruselige Situationen denke. Wobei es im Grunde schon gruselig genug erscheint, sich nach all den Jahrzehnten mit sich selbst als Achtzehnjährigen konfrontiert zu sehen. Ein das Treffen überspielendes Hallo, wie geht’s? wird da nicht viel weiterhelfen und wäre vermutlich der Anfang vom Ende des Ganzen. Vor lauter Aufregung pocht mir mein Herz im Ohr, als würde da jemand von Innen anklopfen.
Nach all dem faulen Gutshofzauber, mit dem mich die verkappte Fotografie am frühen Morgen in der Küche überfallen und ins Jahr 1826 zurückgebeamt hatte – eine Zeitreise, die ein widerwärtiges Einsamkeitsgefühl in mir hinterlassen hatte, war ich schließlich gedankenverloren in mein Arbeitszimmer hinübergegangen, weil ich das Bild, das sich in meinem Kopf verselbstständigt zu haben schien, wieder direkt vor Augen haben und noch einmal unter die Lupe nehmen wollte. Es lag ja noch immer auf meinem Schreibtisch.
Doch nun, wo ich das Bild so vor mir daliegen sehe, kommt es mir mit einem Mal völlig ausdruckslos vor, als hätte es plötzlich all seinen Zauber verloren. Und so lange ich es auch auf mich wirken lasse, da gibt es nichts mehr, was mich an ihm noch faszinieren würde. Das Bild hat mir einfach nichts mehr zu sagen: Matt und völlig verausgabt liegt es da auf meinem Schreibtisch und scheint all seine Energie darangegeben zu haben, um mich gehörig wachzurütteln und auf die Spur zu setzen.
Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken. Denn offenbar scheint auch das Bild zu wissen, dass ich meine Reise ab jetzt alleine werde fortsetzen müssen. Deshalb hat es sich nun wohl auch aus dem Spiel gebracht und diskret zurückgezogen, offenbar will es sich unsichtbar machen. Und trotz aller Skepsis erwacht in mir schon wieder die Empfindung, das Bild besäße ein mysteriöses Eigenleben und wisse um seine Bedeutung. Kopfschüttelnd lache ich auf, um mir das Herz etwas zu erleichtern.
Doch um mich auf die Spur zu setzen, hatte das scheinbar so harmlose Bild wahrhaft Erschreckendes für mich parat gehalten und mit Geschehnissen konfrontiert, die mich offenbar wachrütteln sollten: So hatte diese verfluchte Fotografie nicht nur meine äußerst lebhafte Fantasie bis zu Albträumen aufgeheizt, sondern mir darüber hinaus auch noch dumpfe Existenzängste eingejagt, die mich glauben ließen, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Ekelhafte Einsamkeitsgefühle, die ich so von mir gar nicht kannte.
Ich will mir gar nicht vorstellen, was aus mir in diesen indigoblauen Albtraumwelten letztlich geworden wäre, wenn sich da nicht irgendwann mein achtzehnjähriges Ich eingemischt hätte. Gewitzt genug, um mich zu dessen hell erleuchteten Zimmer zu locken, das ich glücklicherweise im Einerlei des blauen Dämmers schon von Ferne wie einen Hoffnungsschimmer hatte aufleuchten sehen.
Aber dann hatte mir das Bild auf meiner Zeitreise zurück ins Jahr 1826 zum Gutshof von Le Gras fatalerweise auch noch sein wahres, völlig ausgeblichenes Gesicht gezeigt: Eine wahre Totenwelt, die in mir das schale Gefühl der Einsamkeit hatten aufkommen lassen, die ich nun einfach nicht mehr loswerde. Am liebsten würde ich den Jungspund da unten jetzt in meine Arme nehmen, um dies alles einfach wieder zu vergessen.
Und dennoch, all dieser Horror hatte mich auch eine wichtige Erfahrung machen lassen. Die nämlich, ab jetzt, wo ich den Dingen nicht mehr so hilflos gegenüberstand, weil ich um diese zu wissen glaubte, besonnener und gewiefter vorzugehen und das Zepter tunlichst nicht mehr aus der Hand zu geben. Doch trotz all dem kann ich dem Bild auch dankbar sein, hätte ich ohne dieses die Signale aus meinem Körperinneren doch wahrscheinlich gar nicht registriert: Etwas für mich absolut Bedeutsames schien da unten auf mich zu warten. Nichts Unbestimmbares oder Diffuses, sondern ich selbst als Achtzehnjähriger ganz konkret.
Ganz unabhängig von dieser mich herausfordernden Seelenaufgabe sind mir Reisen in meine Erinnerungsräume sonst partout nicht fremd. Immer wieder suche ich diese auf – und dies aus den unterschiedlichsten Gründen: So wenn mir zum Beispiel ein alter Bekannter zufälligerweise wieder einmal in den Sinn kommt, den ich lange nicht mehr gesehen habe, woraufhin ich mir – so ich ein wenig Zeit habe – die gemeinsamen Erlebnisfilme, die uns verbinden, da unten im Lagerraum meines Erinnerungskinos hervorkrame, um mir die Kassetten dann – manchmal auch etwas wehmütig und an der Grenze zur Nostalgie – nach all den Jahren wieder einmal anzuschauen.
Zuweilen aber trete ich solche Erinnerungsreisen auch nur deshalb an, weil ich mir ganz bestimmte Erlebnisse noch einmal genau vor Augen führen will, weil ich mal wieder am Zweifeln bin und mich erden will. Manchmal aber auch, um mich kurz vor einer mich herausfordernden Aufgabe noch mal innerlich zu sortieren.
Zuweilen aber fährt mir auch irgendetwas völlig Banales so mir nichts, dir nichts durch den Kopf und wirft mich für Momente gleichsam automatisch in meine Gedächtnisräume zurück, wo ich eigentlich gar nicht hingewollt hatte. Doch wenn mir zufälligerweise etwas mich tief Berührendes oder Faszinierendes widerfährt, das ich vor Zeiten schon einmal glaube irgendwo gesehen, gehört oder gerochen zu haben, Geschehnisse also, die mich Knall auf Fall in die jeweilige, längst vergangene Situation zurückversetzen, in der ich dies alles schon einmal gesehen, gehört oder gerochen hatte, dann verharre ich für gewöhnlich aus freien Stücken eine geraume Zeit lang in meinen Erinnerungsräumen, gehören die zufällig initiierten Erinnerungsreisen doch zumeist auch zu den spannendsten, weil überraschendsten Ausflügen in meine inneren Erlebniswelten.
Doch eine Erinnerungsreise wie diese ist mir in meinem Leben so noch nie widerfahren. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt noch von einer Reise sprechen kann. Denn mittlerweile kommt mir das Ganze eher so vor, als säße ich auf einer aberwitzigen Rutschbahn und würde wehrlos in die Untiefen meines Unterbewussten hinunterbefördert. Dies aber weiß Gott nicht ganz unfreiwillig, bin ich doch derjenige, der diese Reise selbst initiiert hatte. Der seelische Aufruhr jedoch, den diese Höllenpartie mit sich bringt, überfordert mich auf Dauer dann doch – die Ereignisse überschlagen sich förmlich und drohen sich meiner Kontrolle vollends zu entziehen. Aber ganz egal, was auch immer passieren wird, ich bin fest dazu entschlossen, den einmal eingeschlagenen Weg weiter fortzusetzen. Und jetzt eben alleine. Schließlich geht es um mich und meine angeschlagene Seele.
Bei alldem erscheint mir die gestellte Aufgabe, mich da unten in meinen Erinnerungskatakomben wieder auffinden zu müssen, um meinen inneren Frieden zurückzugewinnen, jetzt nicht mehr allzu kompliziert. Weiß ich nun doch genau, in welchem meiner zahlreichen Erinnerungsräume ich nach dem Achtzehnjährigen, der ich einst gewesen war, werde suchen müssen. In der riesigen Wohnhalle nämlich, wo ich all meine höchst privaten und intimen Erinnerungen aufbewahre, die im Grunde niemanden etwas angehen. Deshalb besitzt diese Wohnhalle auch keine Türen, folglich muss man schon wissen, wie man da überhaupt reinkommt.
So hat beispielsweise auch mein Über-Ich keinen blassen Dunst, wie es sich da in die Wohnhalle hineinschleichen könnte, um meine Bilder und Filme dort hinter meinem Rücken zu checken und zu zensieren. Aber auch dieser Kontrollfreak bleibt draußen. Es fehlte gerade noch, wenn dieser hinter meinem Rücken mindestens die Hälfte meiner geheimen Gedächtnisunterlagen da ins lodernde Feuer des großen offenen Kamins werfen würde, weil er das sondierte Material einfach für zu schlüpfrig und nicht für hinnehmbar erachten würde. Also, wie gesagt, niemand kommt mir da in meine unterirdische Wohnhalle. Und an meine Erinnerungsschätze, die dort auch überall verstreut herumliegen und ausschließlich von der Liebe handeln, erst recht nicht.
Natürlich stehen in der vollgerammelten Wohnhalle, die aber dennoch eine innere, aber geheime Ordnung hat, auch ein Cembalo, ein Stutzflügel und ein großer Konzertflügel sowie etliche unterschiedliche Arrangements mit Tischen, Sofas, Sesseln und Stühlen, die sich allerdings nicht nur durch die Kombination, sondern auch im Farbton deutlich voneinander unterscheiden. Leider kann man sich nirgendwo mehr setzen, da mittlerweile alles Mobiliar mit Stapeln von Bildern übersät oder mit Filmkassetten vollgerammelt ist. Nur einen Platz habe ich mir freigehalten: Und der ist ein ultrabequemer Sessel der oben auf einer kleinen Empore steht, von wo ich den gesamten Raum auf mich wirken lassen kann.
Bei der Ablage und Einordnung meiner Erinnerungen gehe ich rein emotional vor – wenn man kein Gefühl für die Dinge hat, kann man sich auch kein Bild von diesen machen, so einfach ist das. Und ohne irgendein Bild läuft bei der Erinnerung praktisch nichts, sie ist ans Bild gebunden – weh demjenigen, der keine eigenen Bilder hat.
Auf dem Konzertflügel habe ich übrigens ausschließlich solche Bilder oder Filme abgelegt, die mit außerordentlichen Musikerlebnissen zusammenhängen. Tief mich ergreifende Erlebnisse, die mein Leben wesentlich prägten und prägen. Und auf dem ausladenden Sofa einer ultrakuscheligen Sitzecke in strahlendem Blau ganz hinten unter der Empore liegen all meine „unvergesslichen“ sexuellen Erlebnisse auf den großen weichen Kissen herum und sehnen sich danach, wieder einmal betrachtet zu werden.
Mittlerweile quillt die Halle vor lauter Bildern und Filmspulen förmlich über, kein Wunder bei all dem, was sich in all den Jahren in mir so alles angesammelt hat. Regale mit Ordnern wären übrigens völlig witzlos, schließlich muss ich schon sehen, wo ich was abgelegt habe. An Rubriken oder abstrakte Register kann sich kein Mensch erinnern. Da helfen auch keine Eselsbrücken.
Völlig übermüdet entfährt mir ein lautes Gähnen. Und erst jetzt bemerke ich, wie erschöpf ich bin. Ich brauche dringend eine Pause, sonst platzt mir noch der Kopf. Um wenigstens etwas runterzukommen, wende ich mich ungelenk meinem PC zu und werfe ihn an. Ich will einfach nur sehen, was es so Neues gibt auf der Welt, um mich ein bisschen abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen. Aber erst mal werde ich meine Mails checken – pure Gewohnheit.
Als Erstes entdecke ich die Mail eines ehemaligen Klassenkameraden. Dieser schickt mir ab und an Bilder von irgendwelchen Klassentreffen zu, oder uralte Schwarz-Weiß- Fotos aus der gemeinsamen Schulzeit vor mehr als 50 Jahren. Erinnert Ihr Euch? hat der beflissene Klassenkamerad seine nicht enden wollende Serie von Schwarz-Weiß- Fotos benannt, mit denen er mich und die anderen Klassenkameraden in den letzten Monaten förmlich bombardiert hat: Und hier noch ein Foto von Helene, der Hübschen von der Parallelklasse, schrieb er mir neulich in alter Manier unter das Bild. Das Foto ist von einer Faschingsparty 1964 mit Eberhard, Rudi und ihr selbst da vor der Kamera. Helene hat es neulich in einem alten Karton entdeckt … und hier ist es! Erinnert Ihr Euch? Eine Frage, die mir in meiner Situation jetzt wie blanker Hohn vorkommt.
Diesmal aber sind es Gott sei Dank keine sentimentalen Fotos mit hirnrissigen Texten unterlegt, welche die Mail des Klassenkameraden enthält, sondern stattdessen eine Datei des Audiomittschnitts unserer gemeinsamen Abiturfeier aus dem Jahre 1968. Verdutzt halte ich inne. Ich hatte keine Ahnung, dass eine solche Aufnahme überhaupt existieren würde. Aber offenbar hatte da irgendjemand die Feier mitgeschnitten. Keine Ahnung, wer das hätte gewesen sein können?
Und als ich die Datei öffne, sehe ich, dass es tatsächlich die gesamte Abiturfeier ist, die da aufgezeichnet wurde. Jeder Programmpunkt ist einzeln abrufbar und anzuhören: Den Anfang macht natürlich der Rektor des Gymnasiums, der die Festgesellschaft hölzern und umständlich begrüßt. Den nächsten im Programm macht der große Chor der Schule, der eine vierstimmige Motette von Hugo Distler singt, gefolgt vom Festvortrag des bestgehassten Deutschlehrers des Gymnasiums, den dieser Parzival von Wolfram von Eschenbach gewidmet hat. Das liegt auch mehr als nahe, schließlich liegt das mittelfränkische Örtchen Wolfram von Eschenbach, wo der Dichter im 13. Jahrhundert geboren wurde und auch gelebt hatte, praktisch vor den Mauern der Stadt. Und dies ist letztlich auch der Grund dafür, warum Parzival in diesem Gymnasium immer auch ein angesagtes Thema war, schließlich ist dieses ja auch nach Wolfram von Eschenbach benannt.
Wir sollten uns stets für die bestehende Ordnung und deren höhere Werte einsetzen, versucht uns der Deutschlehrer schmallippig einzubläuen. Dabei sollten wir auch niemals vergessen, unser Leben in den Dienst von Fleiß und Disziplin zu stellen, statt uns von den verirrten studentischen Anarchisten, die da gerade die Welt unsicher machten, blindlings verführen zu lassen, seien diese Banditen doch bereit dazu, die Grundfesten des Staates zu zerstören. Was dies alles aber mit dem Tor Parzival zu tun haben soll, verrät uns der Westdeutschlandprotagonist der düsteren Adenauerära, die sich am Wirtschaftswunder festkrallt, allerdings nicht. Die Botschaft bleibt die Botschaft.
Dann folgt erneut eine Einlage des Schulchors: Diesmal singt er ein Chorlied des Komponisten Harald Genzmer, den heute kein Schwein mehr kennt. Doch wie auch immer: Schließlich feiert hier ein musisches Gymnasium, in dem Musik und Kunsterziehung nun einmal Hauptfächer sind, und jeder Schüler ein Instrument erlernen muss. Und dann …
Plötzlich kribbelt es mich in den Fingern. Denn beim nächsten Programmpunkt bin ich mit von der Partie. Gemeinsam mit dem Schulorchester spiele ich Bachs Klavierkonzert in f-moll, da der jeweils beste Instrumentalist eines Abiturjahrgangs bei der Abschlussfeier am Ende des Schuljahres immer auch ein Solokonzert mit Orchester zum Besten geben darf. Und in diesem Jahr ist die Wahl eben auf mich gefallen.
Mir schwirrt der Kopf: Denn mit einem Mal scheint der achtzehnjährige Junge, nach dem ich so verzweifelt suchte, zum Greifen nahe. Und plötzlich ergreift mich auch noch heftiges Lampenfieber, als müsse ich das Konzert nach über 50 Jahren gleich selbst wiederspielen ohne es noch einmal geübt zu haben.
Tranceartig drücke ich endlich auf die Abspieltaste und höre ich mich im nächsten Moment auch schon gemeinsam mit dem Schulorchester musizieren. Und augenblicklich geschieht etwas sehr Eigenartiges: Denn da ich lediglich die Musik höre, die ich da gerade spiele, aber dabei keine Bilder von mir als damaligem Schüler sehe – Bilder, die mir die seitdem vergangene Zeit gnadenlos vor Augen geführt und mich weit von mir weggerückt hätten, kommt es mir plötzlich so vor, als hätte sich der achtzehnjährige Junge, des langen Wartens auf mich völlig überdrüssig, nun seinerseits aus der Vergangenheit zu mir herübergebeamt, und säße nun klavierspielend direkt neben mir. Mein Zeitempfinden hat sich in Luft aufgelöst. Vergangenheit und Gegenwart sind eins geworden.
Und schon nach wenigen Augenblicken bemerke ich zu meinem großen Erstaunen, dass meine Finger das Konzert auf der Schreibtischplatte stumm mitzuspielen begonnen haben – so als bräuchten sie mich gar nicht, um das Musikstück zu spielen. Und als ich konsterniert zu meinen Händen niederblicke, sehe ich statt des Schreibtischs auf einmal die Tastatur, über die meine Hände gewitzt hin und her tanzen.
Und just in diesem Moment überschlagen sich die Ereignisse. Denn mit einem Mal glaube ich mich im Körper des Achtzehnjährigen wiederzufinden. So als hätte meine Seele die Seite gewechselt und befände sich nun im Körper des Jungen.
Eine Weile wage ich mich nicht zu bewegen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich den Jungen da beim Klavierspiel keinesfalls stören will. Immerhin hört ja die ganze Schule da draußen im Saal zu. Und dennoch überwältigt mich bald meine Neugier mich umzusehen, schließlich war es ja meine große Sehnsucht gewesen, mich noch einmal in diesen Jungen hineinversetzen zu können. In einem Körper, in dem ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr zuhause gewesen war. Also schaue ich mich um, diskret und vorsichtig, aber auch skeptisch.
Auf den ersten Blick aber kommt mir hier alles relativ vertraut vor. Das hatte ich wirklich nicht vermutet. Instinktiv war ich vom Worst Case ausgegangen. Doch Gott sei Dank scheint das nicht der Fall, denn da ist nichts, was sich in meinem Inneren groß verändert zu haben scheint – im Kern bin ich offensichtlich derselbe geblieben. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Und ebenso erfüllt von Musik, die schon damals zur bestimmenden Größe meines Lebens geworden war. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, meint Nietzsche in der Götzen-Dämmerung. Ich würde noch weitergehen: Ohne Musik ist das Leben kein Leben.
Aber eines verwundert mich: Denn solange ich mich auch umschaue, bemerke ich doch keine Spuren irgendeiner Steuerungszentrale da in mir. Eine, die mir meiner engstirnigen Erziehung gemäß diktieren würde, wohin die Reise im Leben denn so gehen solle. Doch offenbar hatte ich all diesen schlimmen Versuchen, mich gründlich zu verbiegen, widerstanden und diese emotionale Pest nicht in mich hineingelassen. Der Jungspund da hatte wirklich Mut bewiesen und erfolgreich um ein Leben ohne permanente ideologische Innensteuerung gekämpft. Und deshalb war dieses dann auch alles andere als gradlinig verlaufen, wofür ich heute noch dankbar bin.
Mit einem Mal halte ich irritiert inne und lausche: Das Konzert geht seinem Ende entgegen. Und damit auch die Zeit, die ich hatte, um mich in mir von damals umzusehen. Es ist Zeit, sich zu verabschieden und möglichst unbemerkt wieder von dannen zu ziehen. Doch den Jungen hier, dessen Abwesenheit mir in den letzten Stunden so viel Trübsal bereitet hatte, werde ich ab nun für immer in meinem Herzen tragen. Mit mir zur Gänze vereint.
Und als der Applaus der Schüler im Zuschauerraum aufbrandet, sehe ich mich auf einmal da oben auf dem Podium neben dem Klavier stehen und mich heiter und gelöst verbeugen, während ich selbst unten im Saal unter all den anderen Schülern im Publikum zu sitzen glaube, ebenso heiter und gelöst. Dann aber erhebe ich mich, um mich ebenfalls zu verbeugen – vor mir als Achtzehnjährigen, dem ich als tapferen Kerl so viel zu verdanken habe, hat er mir doch meine innere Freiheit geschenkt.
ENDE