VOM SINN DES LEBENS
Über den Sinn des Lebens nachzudenken ist, ehrlich gesagt, nie so meine Sache gewesen. Neugierig und lebenslustig wie ich nun mal bin, ist es mir wichtiger, mich Hals über Kopf ins Leben zu stürzen und so viel wie möglich von ihm mitzubekommen, statt dazusitzen und mir über dessen Sinn den Kopf zu zerbrechen. Nicht dass es Leben gibt, ist für mich das eigentliche Wunder, sondern wie alles mit allem zusammenwirkt. So birgt das Leben selbst schon so viel geballten Sinn in sich, dass ich zuweilen nicht mehr so recht weiß, wo mir der Kopf steht, und womit ich mich auf meiner abenteuerlichen Entdeckungsreise durchs Dasein als nächstes beschäftigen soll. Schließlich lebt man nur einmal!
Und doch bin ich mir da nicht so sicher. Vor allem dann, wenn ich mit einem Hund im Freien herumtolle. Dann kann es nämlich vorkommen, dass der Hund mich urplötzlich so behandelt, als sei auch ich ein Hund, mir kurzerhand den Stock wegschnappt und mit diesem quer im Maul davonjagt, bis er ihn dann irgendwo in der Ferne wie beiläufig ins Gras fallen lässt, grienend zu mir herüberäugt und mir mit kurzem, dreimaligen Bellen bedeutet, dass ich jetzt derjenige bin, der sich den Stock schnappen und ihm apportieren müsse. Wenn ich dann laut auflachend losrenne, um mir den Stock zu holen, wechselt der Hund mit fliegenden Ohren die Position und erwartet mich dort, wo ich gerade hechelnd losgespurtet bin.
Derartige Erlebnisse färben ab, ertappe ich mich doch zuweilen bei dem Gedanken, in einem früheren Leben tatsächlich ein Hund gewesen zu sein. Ein wilder natürlich, das Leben eines Schoßhunds würde mir nie in den Kopf kommen. Dabei durchströmt mich regelmäßig ein absonderliches Gefühl, das mir den Eindruck vermittelt, ich könnte für Momente den ungeahnten Raum von Freiheit und Weite verspüren, der einem Tier wie selbstverständlich offenstehen muss – Innen und Außen im Einklang.
Warum sollte ich solche Erlebnisse verschweigen? Im Leben scheint alles möglich, solange man keine Angst hat, auch Außergewöhnlichem zu begegnen. Den Dingen offen und frei entgegenzutreten, und den Empfindungen, die sie in einem auslösen, nicht von vorneherein zu misstrauen, bringt tolle Erfahrungen mit sich, die man sein Leben lang nicht mehr vergisst, weil sie das Leben relativieren. Empfindungen sind Seismographen, Gedanken hingegen Konstrukte.
Allerdings hüte ich mich davor, solch verwegene Gefühle allzu persönlich zu nehmen, sonst wäre aus mir ja schon längst ein eingefleischter Reinkarnationstheoretiker geworden. Aber dennoch versuche ich ab und an, mich ganz spielerisch in das Lebensgefühl eines Tiers hineinzuversetzen, wobei es einem da angesichts der sich plötzlich auftuenden Weite und Offenheit des Raums ganz schwummrig werden kann, lebt das Tier doch in völligem Einklang mit der Natur, was mich manchmal nachgerade eifersüchtig werden lässt. Der krude Gedanke aber, vielleicht doch einmal ein Tier gewesen zu sein, langweilt mich, wenn ich ehrlich bin. Warum soll ich mich mit Fragen herumschlagen, die nicht zu beantworten sind?
„Doch was folgt daraus? Für Kant eröffnen diese metaphysischen Rätsel, gerade weil sie sich nicht abschließend beantworten lassen, dem Menschen einen Horizont möglicher Vervollkommnung. Sie leiten uns in dem Bestreben an, möglichst viel in Erfahrung zu bringen, möglichst frei und selbstbestimmt zu handeln, (und) sich einer immerhin möglichen Unsterblichkeit der Seele möglichst würdig zu erweisen. Kant spricht in diesem Zusammenhang vor einer regulativen oder auch leitenden Funktion des metaphysischen Fragens.“ (1)
So weit, so gut. Lieber aber lasse ich die Dinge auf mich wirken, statt die Sache zum Programm zu machen. Denn vieles ergibt sich von allein, wie ich glaube, bezeichnenderweise aber nur dann, wenn man sich nicht ständig zum Mittelpunkt des Geschehens macht und alles immer verstehen will. Grübeln macht schwermütig, sich leicht zu fühlen ist die Kunst. Folglich spiele ich weiter mit Hunden wie ein Hund, und lasse die Seelenwanderung dabei außer acht.
Und dennoch haben sich diese Erlebnisse tief in mir eingeprägt und wirken wie selbstverständlich auf mein Leben zurück – ich liebe das Leben und weiß um meine Verantwortung. Meine stille Sehnsucht aber, wenigstens für Augenblicke über den Tellerrand meiner menschlichen Existenz hinwegsehen oder hinwegfühlen zu dürfen, und sei es auch nur rein imaginativ, gibt meinem Leben Kontur und Farbe.
Der tief in mir verankerten Spiritualität verdanke ich viel in meinem Leben. So verhilft sie mir dazu, nicht falsch an den Dingen zu kleben und mich – so gut ich es eben vermag – den vielfältigen Bewegungen des Lebens anzuvertrauen, die in der Liebe ihren wahren Höhepunkt finden und in der Neugier die elementare Energie, die mich durchs Leben treibt. Ohne falsches Selbstbewusstsein oder gar chronische Ich-Sucht, deren fatale Wirbel diesen Bewegungen nur mächtig in die Quere kämen, sie rasch abebben liessen und schließlich zum Stillstand brächten. Wer will sich schon gern selbst auf den Leim gehen? Träumte ich von einem idealen Leben, wäre ich das Instrument, auf dem das Leben spielte – die Erfahrungen, die man dann machte, wären vermutlich grenzenlos.
Ohne Fantasie macht das Leben nur halb so viel Spaß, denn vieles bleibt grau. Mit den Gedanken und Empfindungen aber zu spielen bringt richtig Leben in die Bude. Denn vergessen wir nicht: Unserem Dasein sind enge Grenzen gesetzt, und unserer Existenz ohnehin. Im Grunde ist sie nichts anderes als ein – wenn auch nicht ganz marginales – Ergebnis evolutionärer Prozesse denen keinerlei Sinn innewohnt. Die Natur spielt mit ihren Bausteinen, darin liegt deren einziger Sinn.
Der Mensch aber ist verdammt dazu, in allem einen Sinn erkennen zu müssen, denn er hat Bewusstsein. Es zwingt ihn nachgerade dazu, die Dinge immer nur als Gegenstand und rein äußerlich zu begreifen, so dass er ständig nach deren Sinn fragt und sie eilfertig mit Namen und Bedeutung belegt, die er in den Dingen vermutet. Sich ihrer Rätselhaftigkeit zu stellen, bringt ihn um den Verstand – die reine Anschauung bleibt ihm für immer verwehrt.
Dass dies so ist, macht mich manchmal ganz kirre. Vor allem dann, wenn ich irgendwo in der Natur sitze, zum Beispiel am Meer. Denn nichts ist schöner für mich, als einfach nur dazusitzen, in die Weite zu blicken und an nichts denken zu müssen. So etwas lernt man nicht in Selbstverwirklichungskursen. Das lehrt die Natur, deren Teil man ja schließlich ist: das Leben trägt seinen Sinn in sich.
Dass alles Leben sterblich ist, weiß ein jeder. Aber diese scheinbare Plattitüde ist in Wahrheit die wohl brisanteste Tatsache, mit welcher der Mensch sich Zeit seines Lebens konfrontiert sieht und ihm vor allem im Alter mächtig Angst einflößt. Nur zu gerne würde er dem Tod entkommen.
Für mich aber war der Tod schon von früh auf mein steter Begleiter. Denn als ich geboren wurde, waren meine beiden Brüder bereits gestorben. Ich erinnere mich noch, wie ich an der Hand meiner Mutter vor ihren dicht nebeneinander liegenden Gräbern stand, obwohl ich noch kaum laufen konnte. Oder wie sie zuhause im Wohnzimmer mir gleichsam gegenübersaßen – auf silbergerahmten Photos auf der Kommode mit ihren frechen Gesichtern zu mir herüberlachend.
Eigentümlicherweise aber fühlte ich mich damals nicht sonderlich bedrückt. Denn für mich waren meine Brüder bald zu Zwillingen geworden, die immer irgendwie um mich herum waren. So blieb für mich die Grenze zwischen Leben und Tod von Kindesbeinen an verwischt. Die unversöhnlichen Sphären berührten sich und gingen in meinem Erleben wie offenes Gelände ineinander über. Diese Erlebnisse waren es wohl, die mir letztlich die Angst vor dem Tod nahmen, davon bin ich heute überzeugt. So können ursprünglich schlimme Erfahrungen später einmal auch von Segen sein – wie das Leben eben so spielt. „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“, sagt Luther.
In diesem Zusammenhang beschleicht mich nicht selten der eigentümliche Gedanke, dass es doch wirklich erstaunlich ist, wenn viele den Tod beziehungsweise das, was danach kommt, immer nur vor sich sehen und nicht auch hinter sich. Denn schließlich kommen wir ja alle aus jenen Sphären, in die wir einst wieder zurückkehren und eingehen werden. Folglich müssten wir doch wenigstens einen Funken Ahnung von diesen haben, die vielleicht ja doch mehr sind als nur Nichts. Solch ein Gedanke hat mit Spökenkiekerei nicht das Geringste zu tun, schließlich sind Ahnungen nicht selten auch der Schlüssel zu Einsichten, die sich normalerweise unserem Erkenntnisvermögen entziehen.
Das Sein zeichnet das Tier aus. Das Dasein den Menschen, der in der Zeit steckt und um die Bedingtheiten seiner Existenz weiß. Deshalb scheint es ihm auch verwehrt, sein Leben wie selbstverständlich zu leben. Da kann das Bewusstsein schon mal zum Fallstrick werden. Vor allem dann, wenn man glaubt, alles in der Hand zu haben und kontrolliert und plant – bloß nichts dem Zufall überlassen! Zufall ist der beste Koch! würde ich dagegenhalten, wenn ich an mein bisheriges Leben denke.
Sich den Dingen zu öffnen, braucht Mut, ich weiß. Wer Existenzangst hat, kann ein Lied davon singen. Bei mir aber liegt die Sache irgendwie anders, denn lange war ich mir dessen überhaupt nicht bewusst. Heute denke ich schon manchmal darüber nach, ob ich vielleicht einen Schutzengel habe, der mir den Mut gibt, mich den Dingen zu stellen, ohne gleich besinnungslos drauflos zu preschen und es allen beweisen zu wollen. Und dennoch, ich trage die Verantwortung für mein Leben, auch wenn es bislang eine einzige Achterbahnfahrt war. Aber auch das verlangt Mut oder einen Schutzengel.
Ein gradliniges Leben, das schließlich zu einer schlüssig imaginierten Biographie führen soll, hat mich nie interessiert: Inhalte gingen mir schon immer vor Karriere. Sich in den Dingen zu verwirklichen, ist mir bedeutsamer als mein Ich in den Dingen zu spiegeln, wenn ich nach Sinn suche. So ist die gegenwärtig grassierende Selbstverwirklichungsmanie für mich nichts als platte Ideologie und sinnlose Tortur, schließlich will ich mir ja nicht ständig selbst begegnen. Wer die Pflanze Identität pausenlos verhätschelt, vergiftet sie.
Die mich charakterisierende Lust, die Dinge und deren Bewegungen aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten und zu studieren, um ihnen wenigstens so auf die Spur zu kommen, sitzt tief in mir drin. Deshalb habe ich wohl auch mehrere Berufe. Ob dem allem aber nun ein übergeordneter Sinn zugrunde liegt, interessiert mich nicht die Bohne. Die Dinge tragen ihren Sinn in sich.
Das hat mich die Musik gelehrt. Ohne sie wäre ich manchmal verloren. Musik befreit Zeit von Zeitlichkeit und Sinn von Sinn. Und die Ewigkeit zu empfinden ist es etwas ganz anderes, als sie verstehen zu wollen.
(1) Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer. Klett-Cotta, Stuttgart. 2018. S. 26.