GESELLSCHAFT / 14
DEMOKRATIE

TEIL 2: DIE ÖFFENTLICHKEIT
11. März 2019

Um es – wie in Teil 1 bereits dargelegt – noch einmal auf den Punkt zu bringen: Das, was die Menschen der westlichen Demokratien gegenwärtig so unzufrieden und letztlich auch unberechenbar macht, hat mit Geld oder mangelnder Resilienz zunächst einmal nicht das Geringste zu tun. Gründen deren offenkundigen Verhaltensauffälligkeiten doch primär in den sinnentleerten und verflachten Bedingungen ihrer Lebenswirklichkeit, die sie geistig verarmen und verdrossen werden lassen und – je nach Charakter – zu ganz unterschiedlichen Reaktionsweisen führen: Entweder geben sie irgendwann klein bei, resignieren und werden womöglich noch depressiv, oder drängen wutschäumend und hasserfüllt auf die Straßen, um ihrem Frust durch Randale Luft zu verschaffen. Aber auch diejenigen, die mithalten, reüssieren und am Wohlstand mehr oder weniger partizipieren, bleiben von der sich in diesen Gesellschaften ausbreitenden inneren Leere und mentalen Stagnation nicht verschont, macht der ökonomische Profit allein doch nicht unbedingt vitaler und beseelter.

Die Ursachen der intellektuellen und affektiven Deprivation liegen auf der Hand und wurzeln tief in den mittlerweile völlig durchökonomisierten Lebensverhältnissen der Menschen, die ihrem Erleben und Erfahrungsraum immer engere Grenzen setzen und ihnen kaum noch Spielraum lassen, ihre Persönlichkeit zu entfalten oder diese gar weiterentwickeln zu können. Positive, ihre Individualität natürlich stimulierende und fördernde Anreize sind rar geworden: Die Welt des alles beherrschenden und gleichschaltenden Konsumismus hat mittlerweise viele Bürger voll im Griff und verleiht ihrem Wesen zusehends uniforme Züge: Ihr Lebenshorizont engt sich ein und ihr Denkvermögen verliert an Elastizität und versteift, während sich ihre Empfindungen mehr und mehr auf die eindimensionalen Erscheinungen der verdinglichten Welt einpegeln und stumpf und reaktionsarm werden – die kognitiven Funktionen versanden in ihren Gehirnen. Der Geist der demokratischen Gesellschaften zerfällt in schale Rudimente. Sie drohen ihre Identität zu verlieren.

Chronischer Missmut und innere Labilität sind die Folgen, deren weitreichende Konsequenzen den westlichen Demokratien mächtig auf die Füße fallen. Denn mittlerweile sehen nicht wenige in der demokratischen Staatsform den wahren Grund ihrer Lebensverdrossenheit und machen das System, wie sie die Demokratie inzwischen nennen, für alles verantwortlich. Nicht ganz zu Unrecht, so will es scheinen, stehen die Demokratien doch ganz offensichtlich unter dem Kuratel ihrer Ökonomie. Dass es aber exakt diese ist, die für die lebensunwürdigen Verhältnisse letztlich verantwortlich zeichnet, wollen die Missmutigen und Beleidigten offenbar nicht zur Kenntnis nehmen – den Demokratien kommt der Bürger abhanden. Immerhin derjenige, von dem verfassungsmäßig alle Macht im Staate ausgehen soll.

Die Repräsentationskrise, in die sich die demokratischen Gesellschaften (völlig unbedacht) hineinmanövriert haben, kommt nicht von ungefähr, war die Liaison von Demokratie und Kapitalismus doch von jeher extrem krisenanfällig und im Grunde ein in sich zutiefst widersprüchliches Verhältnis: Denn während die Demokratie auf den freiheitlich aufgeschlossenen Menschen setzt, versucht der Kapitalismus diesen an der Nase herumzuführen und letztlich zu entmündigen.

An den knallharten Strategien der kapitalistischen Ideologie, das Leben in all seinen Facetten zu Produkt und Ware degenerieren zu lassen, womit sie die Lebensvielfalt schonungslos der Eintönigkeit preisgibt, konnten offensichtlich auch alle marktwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Gegenmaßnahmen der Demokratien nichts ändern – die Lebensinhalte verfliegen, das Leben gerinnt zum blanken Vollzug.

Aus dem einstigen Souverän sind missmutige Ignoranten, spießige Alltagsvertreter oder neurotische Reaktionäre geworden, die nicht mehr so recht mitziehen wollen. Aber um diese bei der Stange zu halten oder gar in die Gesellschaft zurückholen zu können, fehlen mehr und mehr die finanziellen Mittel. Offenbar sind solche Transaktionen die einzige Möglichkeit, die den den Demokratien bleiben, um sich der sozialen Imbalancen und krisenhaften Zuspitzungen, die ihre Ökonomien immer wieder verursachen, wirklich erwehren zu können, was ihnen in der Vergangenheit auch mehr oder weniger erfolgreich gelang. Das sozialstaatliche Füllhorn aber geht zur Neige. Die Schuldenberge der Demokratien wachsen ins Unermessliche.

Dabei stellt Francis Fukuyama dem Sozialstaat ganz generell ein schlechtes Zeugnis aus: In seinem neuen Buch Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment vertritt er die Auffassung, der Sozialstaat habe insbesondere in den USA in den letzten dreißig Jahren meist nur liberale Einflüsse begünstigt und sich vor allem um die Belange von Minderheiten gekümmert statt das Gleichheitsproblem der gesamten Gesellschaft im Auge zu behalten. So hätte sich die Kluft zwischen Arm und Reich noch weiter vergrößert. Der Sozialstaat hätte es schlichtweg verabsäumt, den „seit 30 Jahren andauernden Trend ausufernder sozioökonomischer Ungleichheit“ wirksam zu bekämpfen. Dies aber räche sich nun. Denn mittlerweile würde nicht nur „jede marginalisierte Gruppe auf einer besonderen Identität bestehen“, sondern jetzt auch praktisch jeder, der sich von der Gesellschaft in irgendeiner Art und Weise benachteiligt fühle.

Fukuyamas Sätze lesen sich, als hätte der Sozialstaat fatal falsche Zeichen gesetzt und die Bürger damit derart verhätschelt, dass deren Ansprüche ins Maßlose gestiegen und kaum noch zu befriedigen wären. Seelisch so instabil, dass sie sich bei jeder x-beliebigen sozialen Irritation, Krise oder Enttäuschung gleich in einer existentiellen Krise wähnten. „Liberale Gesellschaften haben gute Gründe dafür, sich nicht um eine Reihe unablässig wuchernder Identitätsgruppen zu gruppieren, die für Außenstehende unzugänglich sind“, warnt Fukuyama die Demokratien.

Wie dem auch immer sei: In jedem Fall hatten die demokratischen Staaten die mentale und seelische Verödung ihrer Bevölkerungen nicht auf dem Schirm. Die Gelbwesten in Frankreich sind hierfür ein drastisches Beispiel. Denn das einzige, was diese Menschen wirklich eint, ist das Gefühl tiefer Unzufriedenheit – ein völlig diffuses Unbehagen ihrer Lebensrealität gegenüber, der sie ratlos und nachgerade sprachlos gegenüberstehen – fern jeglichen konkret politischen Inhalts.

„Man hat den Eindruck, dass sich die gilets jaunes um jeden Preis in den Medien halten, dass sie weiter gefilmt und gezeigt werden wollen“, meint der französische Philosoph Alain Finkielkraut. „Es scheint wie ein Rausch zu sein: Bisher existierten sie kaum, und jetzt wollen sie krampfhaft die ganze Bühne besetzen.“ (1) Den psycho-sozialen Hintergrund aber, vor dem sich das Geschehen aus Unmut, Hass und Gewalt zusammenbraut, weiß Finkielkraut offenbar nicht recht einzuordnen, obwohl er „die zunehmende Ohnmacht der Bevölkerung“ als Quelle des Unmuts ausdrücklich erwähnt: Die Gewalt ist „leider seit einigen Jahren bei allen Protesten in Frankreich zu beobachten. Es gibt hier nur noch brutale Demonstrationen mit fürchterlichen Attacken gegen Polizisten. Ich bin darob völlig konsterniert und kann mir die Gewalt nicht erklären. Ich verstehe ihre Triebfedern nicht. Frankreich ist ja nicht im Elend!“

Es ist erstaunlich, dass selbst ein Mann wie Finkielkraut, der es eigentlich besser wissen müsste, diesen immer wieder zitierten Scheinwiderspruch zum Thema macht. Geld allein macht nicht glücklich, das dürfte sich doch mittlerweile herumgesprochen haben. Nein, es ist der frustrierte Lebensimpuls, der die Gelbwesten massenhaft auf die Straßen treibt. Die „Aufständischen seien vor allem einsam“, kommentiert eine französische Paartherapeutin das Geschehen: "Vorher saßen sie traurig zu Hause, jetzt stehen sie zusammen am Kreisverkehr und trinken Kaffee."
 
Und dennoch: Eines scheinen die Gelbwesten genau zu wissen: Auf die Medien kommt es an, wenn man heutzutage in der Gesellschaft beachtet werden will. Insbesondere natürlich auf das Internet, wo man, wenn man es nur richtig anstellt und entsprechend auf die Pauke haut, sicher sein kann, rasch Aufmerksamkeit zu erheischen. Dagegen sind Demonstrationen draußen auf den Straßen nur noch die halbe Miete – drastische Videoclips von diesen Revolten sind im Netz zehnmal mehr wert. Kein Wunder also, wenn die Gelbwesten, wie Finkielkraut bemerkt, vor die Kameras drängen und gefilmt werden wollen.

In Windeseile hat sich das Internet zur eigentlichen Öffentlichkeit der demokratischen Gesellschaften entwickelt. Virtuelle, scheinbar klandestine Sphären, die dem mittlerweile verrohten und fragmentiert einsilbigen Kommunikationsverhalten vieler Bürger weitaus mehr zu entsprechen scheinen, als reale Begegnungen, Gespräche oder Auseinandersetzungen Auge in Auge.

Der öffentliche Raum der Demokratien hingegen, die Orte des direkten gemeinschaftlichen Austauschs und der freien politisch-sozialen Debatte, die all’ ihren Mitgliedern offenstehen, verweisen auf drastische Art und Weise. Offenkundig haben diese Menschen keine rechte Lust mehr, sich persönlich mit anderen ins Benehmen zu setzen und ihre Meinung selbstkritisch in die Waagschale zu werfen. Lieber lassen sie ihre krude gestanzten Auslassungen heutzutage übers Smartphone oder Tablet laufen, um so ihre solipsistischen Ansichten mit engstirnigen Memes massenhaft in den sozialen Netzwerken zu verbreiten, wissen sie doch von vorneherein, wie sie dort diejenigen erreichen, die ihre Meinung teilen und umgehend weiterleiten. So gewinnen die kruden und vorurteilsbelasteten Weltanschauungen ihres Scheuklappendenkens im Unisono von Millionen Gleichgesinnter gleichsam im Handumdrehen den Charakter der Faktizität und bestärken diese im Glauben, die Realität für sich gepachtet zu haben.

Die soziale Abstinenz dieser Bürger kommt jedoch nicht von ungefähr. Denn offenbar haben sie aufgehört, die Welt wirklich verstehen zu wollen. Zu undurchsichtig und zu komplex erscheint sie ihren erlahmten Sinnen. Da macht es ihnen der Blick durchs Raster wesentlich leichter sich einigermaßen zu orientieren. Schließlich haben die Brillen der Ideologien schon immer geholfen, sich der Welt wieder stellen zu können und sie zu begreifen – jetzt muss man ja gar nicht mehr hinschauen, um zu wissen, was wirklich läuft. Wer sich solch eine Brille auf die Nase setzt, hat es einfacher im Leben und weiß endlich wohin. Am besten zurück!

So hat sich im Internet über die Jahre eine Art Gegenöffentlichkeit etabliert, die die demokratischen Grundregeln auszuhebeln weiß und die freie Rede schamlos verhöhnt. Setzt sich diese virtuelle Zone doch aus lauter irgendwie Enttäuschten oder Aufgebrachten zusammen, die in ihrem depravierten Lebensalltag keinen rechten Sinn mehr sehen und mit Abermillionen Ihresgleichen verzweifelt versuchen, sich mit reaktionären Waffen blindwütig zur Wehr zu setzen. Nachgerade zwangsläufig von ungesteuerten destruktiven Energien durchsetzt, mit denen sie Gesellschaft und Staat an den Kragen wollen. Aus der hilflosen, zwanghaft durchformten Eigenbezüglichkeit der Enttäuschten aber, die sich massenhaft im Netz in Filterblasen versammeln, formieren sich Kader, die auf das gesellschaftliche Leben vehement zurückwirken und es sukzessive unterwandern und zersetzen.

Auf diese Weise bieten die demokratischen Gesellschaften gegenwärtig ein äußerst skurriles Bild, lässt sich deren wahrer Zustand doch nicht mehr an ihrer Öffentlichkeit ablesen, sondern nur noch an den virtuellen Sphären des Internets, in denen sich die wahre Physiognomie der gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit widerspiegelt, die tief in die Köpfe der Bürger blicken lässt. Seismogramme der übergreifenden intellektuellen und affektiven Verwahrlosung. Seelenmikroskope, deren Präparate viel vom kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verraten, das von hirnrissigen Denkschablonen zerfressen politische Korrektheit proklamiert. Beherrscht von Spießerregularien und Privatideologien, die das Leben zwar zur Galeere machen, aber für ein geordnetes Miteinander und Ruhe im Land sorgen sollen.

Eine nachgerade masochistisch eingefärbte Pandemie der Verblödung und Verkrampfung hat die demokratischen Gesellschaften erfasst, die diese an den Rand ihrer Funktionsfähigkeit bringt. Äußerst brisante Phänomene, die mittlerweile eher Psychiater denn Systemanalytiker auf den Plan rufen sollten. Dabei ist der einst so lebendige Raum der demokratischen Öffentlichkeit zu grauen Transitzonen verkommen, durch die massenhaft die Schattenrisse Vereinzelter und Verstummter mit Smartphone oder Tablet tappen, während die Sphären des Cyberspace vom wahrhaft grotesken Ersatzleben erzählen, das sich in den so ausgehöhlten Demokratien ins Virtuelle zurückgezogen hat. „Ein Drittel des Landes lebt in einer alternativen Realität“, sagt Ben Rhodes über die USA.

Der Bürger scheint an seine physischen und psychischen Grenzen gekommen: Entweder er verfettet oder leidet an Magersucht, ist chronisch mies drauf oder steckt schon im Burn-out. Lebensfreude und Optimismus sehen anders aus, unterschwellige Langweile und andauernde Empörung zerren mächtig an seinen zum Zerreißen angespannten Nerven. Druck und Stress machen ihn platt. Viele können nicht mehr und wollen sich Luft verschaffen, egal welcher Couleur und quer durch die Bevölkerung.

So kommt vielen das Internet gerade recht, um sich mal so richtig auszukotzen. Mit der Maschine geht so etwas von zuhause aus und da ist keiner, der einen dabei stören oder gar daran hindern könnte. Schließlich geht’s nicht mehr um Politik, sondern um verletzte Gefühle. Und die müssen nun mal raus und haben ihre eigene Sprache. Zudem ist man im Netz nicht allein wie draußen auf den Straßen. Gleichgesinnte gibt’s dort en masse. Und das schweißt zusammen. So ist man endlich nicht mehr allein.“

„Der Hass ist die böse Überraschung der sozialen Netzwerke“, sagt Finkielkraut. „Es gibt ihn inzwischen überall. Das ist ein weiterer Einfluss der sozialen Netzwerke. ... Man meint, diese würden die freie Rede ermöglichen, indem sie Macht und Hierarchie wegräumten. Doch vor allem, merkt man jetzt, ist die Zivilisation weggeräumt worden. Die Rede mag nun frei und spontan sein, aber sie ist auch frei von Anstand. Und ihre Spontaneität ist wild, ja barbarisch.“

Wie wahr! Aber Finkielkraut geht fehl, wenn er glaubt, dass einzig das Internet den Hass in den Menschen erzeuge. Das Internet ist eine Maschine, und Maschinen erzeugen keinen Hass, es sei denn jemand steht sein Leben lang am Fließband.

Als das World Wide Web vor etwa 30 Jahren Einzug in die Gesellschaften hielt, hatten zumindest die der Demokratien die freie Wahl, die brandneue Kommunikationsmaschine ganz in ihrem Sinne zu nutzen. Eine Maschine, die ihrem Erfinder Tim Berners-Lee, einem ehemaligen Physiker am CERN zufolge dem direkten und ungehinderten Austausch von wirklich Wichtigem und Wissenswertem dienen sollte – ein nachgerade perfektes Kommunikationsmodell, das für die Demokratien und ihre Bürger wie zugeschnitten schien.

Wäre das Internet damals aber auf offene und wirklich liberal verfasste Gesellschaften gestoßen, hätte es sich vermutlich auch in diese Richtung entwickelt. Doch es kam anders, wie wir heute wissen: Denn binnen weniger Jahre verwandelte sich diese Maschine erschreckenderweise zu einer Art Dreckschleuder, mithilfe derer sich aller Unmut und Hass von Millionen Bürgern entlud, die sich im Netz offensichtlich ein Ventil verschafft hatten. Eine düstere Grundstimmung kam da zum Vorschein die sich in den demokratischen Gesellschaften offenbar wider Erwarten vieler aufgestaut hatte. Eine unterschwellige Frustation und Verbissenheit, die den immer kälter werdenden und mehr und mehr ins Sinn- und Bedeutungslose abgleitenden Lebensbedingungen geschuldet sein mussten. Woher sonst sollten diese Phänomene wohl rühren?

Dass dieses pausenlose und impertinente Netz-Bombardement wie ein Feedback-Mechanismus auf Mensch und Gesellschaft zurückwirkt und die aggressiven Tendenzen in der Bevölkerung massenhaft potenziert, ist klar. Das heißt aber noch lange nicht, dass dieses destruktive Potenzial seine Ursache im Internet hätte. Derartige Schlussfolgerungen verschleiern die wahren Gründe des gegenwärtigen psycho-soziale Desasters und blenden die fatalen Aspekte der historischen Genese dieser mentalen Prozesse aus: Den Hass aus dem Netz zu verbannen, bedeutet in keiner Weise, diesen damit auch automatisch aus den Herzen der Menschen getilgt zu haben.

Dass das World Wide Web kurz nach seiner Einführung auch von der kapitalistischen Ökonomie okkupiert wurde, spricht für sich. Schließlich war der Konsum schon vor 30 Jahren zu einer entscheidenden Größe im Leben vieler Bürger geworden. Und die Chance, diese jetzt mithilfe von Algorithmen auch qua Person ganz direkt mit auf sie ganz individuell zugeschnittenen Offerten in die Zange nehmen zu können, weil man diesen jetzt im Netz auch in Hirn und Herz schauen konnte, ließ sich die kapitalistische Industrie natürlich nicht entgehen. Ein Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus, das Sheryl Sandberg erst bei Google und dann auch bei Facebook einführte, weswegen sie die Harvard-Professorin Shoshana Zuboff „Typhus Mary“ nennt. (2) Diese war eine Köchin, die im späten 19. Jahrhundert von Irland nach New York City auswanderte, und den Typhuserreger in sich trug, mit dem sie dort dann viele andere ansteckte, was zu einer veritablen Massenepedemie dieser Krankheit führte. „Anfangs ging es nur darum, möglichst viele Daten zu sammeln, um bei Vorhersagen auch noch so kleine Fehler auszumerzen“, führt Zuboff aus. „Aber dann haben die verstanden, dass man Verhalten am besten vorhersagen kann, wenn man eingreift. Pokémon Go und seine Monster zeigen das gut. Ursprünglich hat Google das Spiel entwickelt. Es ist ein groß angelegtes Experiment, um zu testen, wie man die Bevölkerung steuern kann, um damit Geld zu verdienen, ein Vorspiel, um die Methoden auf Städte zu übertragen, auf Regionen, auf Gesellschaften. Das Ziel der Überwachungskapitalisten ist nicht mehr nur, automatisch Informationen zu sammeln und zu verarbeiten. Sie versuchen jetzt, uns zu automatisieren und die Natur des Menschen zu verändern.“

Und dennoch hat sich mit dem Internet das Konsumverhalten der Bürger mittlerweile ins nachgerade Absurde gesteigert. Denn jetzt verspricht ihnen der Cyberspace praktisch alles, um dem grauen Allerlei ihres Daseins angeblich neuen Glanz zu verleihen und ihrem angekränkelten Selbstwertgefühl, das unter den Bedingungen der kapitalistischen Ökonomie in den Seilen hängt, wieder auf die Sprünge zu helfen, was im Grunde aber nichts anderes bedeutet, als den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben. Der obszöne Markt der Selbstverwirklichungsindustrie, der durch den von der Ökonomie mental ausgezehrten Menschen erst möglich wird, ist krude Realität geworden – Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Gesundheit, Glück und Liebe, alles kann man heutzutage offenbar im Netz ergattern, solange man nur die Knete dafür hat.

Diese vermeintliche Chance ist vielen Bürgern offenkundig zu Kopf gestiegen – sie scheinen die Absatzstrategien der Industrie verinnerlicht zu haben. Nachgerade obsessiv kreisen deren ausgetrocknete Gedanken und Empfindungen um die Flachscheibe der virtuellen Konsumwelt, deren aberwitzige Produkte den Börsenwert der Industriegiganten zwar in die Höhe schnellen lässt, dem ausgemergelten Selbstwertgefühl der Bürger damit jedoch einen Bärendienst erweisen, da deren entleerte Ichs somit schier ewig unbefriedigt bleiben.

So ist von der ursprünglichen Idee des World Wide Web Gründers Tim Berners-Lee kaum etwas übriggeblieben. Denn selbst die Kommunikationsstrukturen, die das unmittelbare Miteinander zusehends durch virtuelle Messenger Dienste ersetzen, werden mittlerweile von Weltkonzernen einzig um der Gewinnmaximierung willen gesteuert und manipuliert, was die Bürger der demokratischen Gesellschaften aber offenkundig nicht weiter zu bekümmern scheint, werden sie doch von den hinterlistigen Methoden der Ökonomie in einer Art Dauerkonsumerregung gehalten und blenden diese Tatsachen demzufolge wie hypnotisiert aus.

Kopflos flüchten sie in den kollektiven virtuellen Rausch – Online-Shopping. Facebook. Whatsapp. Tinder. YouTube und Instagram sind ihnen zur Lebenswirklichkeit geworden. Die reale Welt aber scheint ihnen allmählich abhandenzukommen, denn der Smartphone-Blick versperrt ihnen die Sicht auf die Wirklichkeit. Selbst das Bewusstsein dieser Netzgesteuerten hat mittlerweile virtuelle Züge angenommen: Das, was ihnen real erscheint, ist das Virtuelle. Und das Reale, das sie umgibt, halten sie zunehmend für irreal. Die mentale Verkümmerung und Verdummung vieler in der Gesellschaft kommen einem kognitiven Erdrutsch gleich, der vor 30 Jahren noch undenkbar schien. What’s real? Die Realität ist zum Spielball erlahmter Gehirne geworden – kein Wunder, dass die Fake News blühen.

Der fatale Realitätskonflikt, der viele Bürger gegenwärtig erfasst und geistig auseinanderreißt, ist die wohl brisanteste Herausforderung, vor der sich die ohnehin schon geschwächten demokratischen Gesellschaften gestellt sehen. Gegen diese kognitiven Umwälzungen, die das Realitätsbewusstsein schwächen und einschränken, ist die anwachsende sozio-ökonomische Ungleichheit auf lange Sicht gesehen sicher das geringere Problem.  Denn ein immer größerer Teil ihrer Bevölkerungen verhält sich der gesellschaftlichen Realität gegenüber schon so, als sei er fortwährend im Cyberspace unterwegs. Der Bürger sei volatil geworden, also unberechenbar, heißt es stirnrunzelnd und irritiert von politischer Seite.

Dies erstaunt kaum, denn die politische Sphäre der Demokratien ist es, die es gegenwärtig am Härtesten trifft. Die chronisch Unzufriedenen wählen reaktionär oder ihrer ängstlichen Engstirnigkeit gemäß. Und diejenigen, die von der Ökonomie profitieren, wählen meist schon im Stil des Like-Buttons. Mehr und mehr bestimmt das idiotische Prinzip von Like und Dislike die politische Realität der Demokratien. Dabei haben es neue Gesichter leicht. Dieselben aber einige Wochen später schon schwerer. Daumen hoch oder Daumen runter – nur das ultimativ Neue erregt offenbar noch Aufmerksamkeit und kollektives Interesse, das morgen jedoch schon wieder ziemlich alt aussieht.

Der öffentliche Diskurs verrottet und macht sich allzu häufig nur noch an abstrusen und völlig belanglosen Nebensächlichkeiten fest, die in den verblödeten Köpfen jedoch zu veritablen gesellschaftlichen Miniskandalen hochstilisiert werden. Diese Nullnummern halten die demokratischen Gesellschaften mächtig auf Trab und scheinen sie in permanente Dauerempörung zu versetzen: Katzenfans treten gegen Katzenhasser an. Impfgegner pöbeln gegen Impfbefürworter. Veganer machen Fleischkonsumenten zu Hackfleisch oder umgekehrt. Blindwütige Adepten der Low-Carb-Diät machen redliche Intervallfaster zunichte. Scheich- und Indianerkostüme für Kinder zu Fasching werden des Rassismus bezichtigt und an den Pranger gestellt. Und Systemverächter verhöhnen die schweigende Mehrheit, die es in dieser Form aber schon längst nicht mehr gibt, da diese Menschen nur noch abgestumpft und saturiert als Vereinzelte das Geschehen verfolgen und sich bloß nicht einmischen wollen.

Wer verzweifelt oder aber einfach nicht mehr hinsehen will, spielt besser CIVILIZATION IV. Gathering Storm heißt die neueste Variante dieses Simulators der Menschheitsgeschichte der Firma Firaxis. In diesem virtuellen Strategiespiel kann man Zivilisationen über tausende Jahre hinweg von der Steinzeit in die Moderne führen, gründet Städte, erforscht Technologien, führt Kriege und Friedensgespräche, bis am Ende der Tage eine der Zivilisationen gewonnen hat – Deutsche oder Engländer zum Beispiel. Oder Nubier oder Kanadier, Koreaner oder Maori.

Dabei ist der Klimawandel das allerneueste und wohl spannendste Feature des Spiels. Je mehr Kohle und Öl verbraucht werden, desto heißer wird es. Gegen steigende Meeresspiegel helfen dann Flutmauern, schwimmende Siedlungen und in den allerschlimmsten Fällen letztlich nur noch Umsiedlungen. So kann man sich wenigstens im Kopf schon einmal darauf einstellen was kommen wird.