AUF ÄUSSERST DÜNNEM EIS
Teil 1
Dass der Homo sapiens in großen Schwierigkeiten steckt und sich gegenwärtig auf äußerst dünnem Eis bewegt, ist kein Geheimnis. Und dass er sich den Großteil dieser Schwierigkeiten selber eingebrockt hat, ist ebenfalls keines mehr. Doch nun hat es zu allem Überfluss auch noch den Anschein, als sei der Mensch völlig überfordert, ja unfähig, sich den selbst verantworteten Problemen zu stellen, geschweige denn, diese zu meistern. Des Menschen Welt ist ins Wanken geraten und droht über ihm zusammenzustürzen, als wäre dieser das Opfer seiner selbst. Insofern stellt sich die drängende Frage, ob der Homo sapiens überhaupt in der Lage ist, langfristig auf der Erde zu überleben. Oder ob er dazu letztlich doch keine Chance hat, weil er – wie viele andere Lebewesen vor ihm auch – ein Irrläufer der Evolution ist, der es einfach nicht schafft, sich den auf diesem Globus herrschenden Lebensbedingungen anzupassen und eines nicht allzu fernen Tages wie vom Erdboden verschluckt sein wird.
DER MENSCH – EINE EVOLUTIONÄRE MISSGEBURT?
Diese Vermutung hegte schon Arthur Koestler in seinem letzten Buch Janus; A Summing Up aus dem Jahre 1978, wenn er schrieb:
„Der Klang, der am nachhaltigsten durch die gesamte Geschichte der Menschheit widerhallt, ist der von Kriegstrommeln. Stammeskriege, Religionskriege, Bürgerkriege, dynastische Kriege, Kolonialkriege. nationale und revolutionäre Kriege, Eroberungs- und Befreiungskriege, Kriege, um alle Kriege zu verhindern und zu beenden, folgen einander seit Menschengedenken in einer Kette zwanghafter Wiederholung. Und es besteht aller Grund zu der Annahme, dass diese Kette sich auch in Zukunft fortsetzen wird. … Ein nüchterner Beobachter von einem höher entwickelten Planeten, der die Geschichte der Menschheit von Cro-Magnon bis Auschwitz auf einen Blick überschauen könnte, würde zweifellos zu der Schlussfolgerung gelangen, der Mensch sei in gewisser Hinsicht ein bewundernswertes, im Wesentlichen jedoch ein sehr krankes biologisches Produkt. … Das auffälligste Kennzeichen für die Krankheit unserer Spezies ist der Gegensatz zwischen ihren einzigartigen technologischen Errungenschaften und ihrer ebenso einzigartigen Unfähigkeit, ihre sozialen Probleme zu meistern. Wir können Satelliten um ferne Planeten steuern, aber wir sind außerstande, die Situation in Nordirland in den Griff zu bekommen. Der Mensch kann die Erde verlassen und auf dem Mond landen, er kann aber nicht von Ost- nach West-Berlin wechseln. Prometheus greift nach den Sternen – mit einem irren Grinsen im Gesicht und einem Totemzeichen in der Hand.“
Wenn es denn tatsächlich zutreffen sollte, dass der Homo sapiens wie bereits viele seiner Vorläufer – so beispielsweise der Neandertaler, der Denisova-Mensch, der Homo heidelbergensis, floresiensis oder erectus – ein biologischer Irrläufer ist, der aus konstitutiven Gründen mit den irdischen Verhältnissen partout nicht zurechtkommt, und sich bereits nach nur 300.000 Jahren wieder von der Erde verabschieden muss – es wäre nicht weiter verwunderlich. Allein wenn man bedenkt, wie zerstörerisch sich dieser bislang auf dem Globus in Szene setzte; und wie selbstzerstörerisch dabei, da er mit seinem besinnungslos-aggressiven Verhalten seinem Heimatplaneten nun auch noch einen Klimawandel an den Hals schafft, und damit parasuizidal am eigenen Ast sägt – mit seiner die Natur missachtenden Ökonomie langfristig seine eigenen Lebensgrundlagen zerstörend.
Auf diese Art und Weise ist der Homo sapiens blindwütig und letztlich völlig unkontrolliert dabei, sich und seine Gattung selbst abzuschaffen. Er wirkt erschöpft, und wohl auch am Ende mit seinen geistigen Kräften – ohne jegliche Perspektive und völlig ratlos der Zukunft gegenüber: Was hat dieser in der relativ kurzen Geschichte seiner Existenz auf Erden nicht schon alles versucht, aus sich ein „besseres“, ein vernünftigeres Wesen zu machen, ohne dass ihn all diese Aktivitäten und Umtriebigkeiten auch nur einen Schritt vorangebracht hätten? Ganz im Gegenteil: Gegenwärtig hat man den Eindruck, der Mensch fiele entwicklungsgeschichtlich weit hinter die ihm gegebenen Möglichkeiten zurück, und regrediere kognitiv auf ein subgeistiges Niveau, das sich vornehmlich durch sture Grobschlächtigkeit und blindwütige Aggressivität charakterisieren lässt.
Der Mensch schwächelt wie die von ihm geschundene Natur, der er nun auch noch ein Massenaussterben beschert. Das erste übrigens, das er – nach fünf anderen, die vormals durch natürliche Prozesse ausgelöst worden waren – aufgrund seiner achtlosen und rigiden Verhaltensweise der Umwelt gegenüber ganz allein zu verantworten hat. Er, der sich vor Jahren noch lautstark zur Krone der Schöpfung ausrief und sich aufspielte, als sei er der Herrscher aller Reußen, jetzt aber so tut, als hätte er dies nie behauptet.
VERZERRTE KOGNITION
In diesem Kontext sind es nicht physische oder psychische Beeinträchtigungen, die den Menschen zum Irrläufer machen und seine Zukunft auf Erden in Frage stellen. Vielmehr sind es kongenitale mentale Defizite, die ihn geistig immer wieder heftig ausrutschen lassen und letztlich auch daran hindern, sich auf dem Erdplaneten relativ konfliktfrei und im Ausgleich mit seiner natürlichen und sozialen Umgebung einzurichten: Diese „kognitive Verzerrungen“ (cognitive bias bzw. cognitive illusions), wie diese zerebralen Defizite der Wahrnehmungsverarbeitung in der Hirnforschung auch genannt werden, sind tief im Gehirn des Menschen verankerte und automatisierte Denkmechanismen, die diesen – als geistige Schwachstellen – unbewusst immer wieder zu folgereichen Denkfehlern bei der Informationsverarbeitung von Wahrgenommenem verleiten, und ihm auf diese Weise unter Umständen zu fatalen sozialen Fallstricken werden, weil sie ihn gehörig in die Irre führen und im Verhalten zu folgenschweren Fehleinschätzungen der realen Gegebenheiten führen.
Daniel Kahneman hat in seinem Buch Schnelles Denken, Langsames Denken aus dem Jahre 2011 dargelegt, dass das Phänomen der kognitiven Verzerrung nichts mit psychologischen Prozessen zu tun hat, sondern auf biologische Funktionen des menschlichen Gehirns zurückzuführen ist. Und diese Funktionen basieren im Wesentlichen auf der Tatsache, möglichst Ressourcen einzusparen und prinzipiell so wenig Energie wie nötig zu verbrauchen: Je kürzer und knapper der kognitive Verarbeitungsprozess, desto besser. Immerhin ist das Gehirn ein Energievielfraß.
Dementsprechend bearbeitet das Gehirn in aller Regel auch die Wahrnehmungsinhalte, die auf den Menschen einströmen – also so kurz und knapp wie möglich. Denn im Grunde ist das menschliche „Denkorgan“ ein ziemlich fauler Geselle, der sich am liebsten auf gewohnten Bahnen bewegt und Neues meidet. Was natürlich auch für kognitive Prozesse gilt, mit denen das Wahrgenommene bearbeitet wird: Filtert das Gehirn hierbei doch ihm wesentlich erscheinende Muster oder Patterns aus dem Informationsstrom kurzerhand heraus und vergleicht diese in Windeseile mit entsprechenden, bekannten und schon im Gedächtnis gespeicherten Mustern oder Patterns, um dann – gleichsam automatisch – die dazu passenden Reaktionsschemata und Verhaltensmodi abzurufen und zu aktivieren. Der übrige Teil der Informationspartikel wird vom Gehirn praktisch ignoriert und versinkt im Dunkel: Folglich wird die Differenziertheit des Denkvorgangs der raschen Orientierung willen geopfert, ohne dass der Mensch davon etwas mitbekommen würde.
SCHNELLES DENKEN
Kahneman ordnet diese Art des schnellen Denkens, das mit der landläufigen Vorstellung von einem reflektierenden Denkprozess nichts gemein hat, einem System 1 zu, das für „das schnelle, willkürliche, automatische und mühelose Denken wie zum Beispiel das Zähne putzen“ steht. Im Gegensatz dazu steht System 2, das „die Aufmerksamkeit auf die anstrengenden mentalen Aktivitäten lenkt und komplexere Berechnungen macht, was oftmals mit Konzentration, aber auch mit Entscheidungsfreiheit und Handlungsmacht einhergeht“, so Kahneman. (1)
Beide Systeme beschreiben jeweils das, was im Gehirn passiert, wenn der Mensch denkt, um zu Entscheidungen zu gelangen – schnell oder langsam. Und kognitionspsychologisch gesehen ist da vor allem in System 1 ohne Unterlass eine Menge los, obwohl all diese Vorgänge und Prozesse für diesen absolut im Dunkel bleiben. Aber wer denkt schon bewusst darüber nach, ob er sich nach dem Aufstehen wäscht, die Zähne putzt und sich anzieht? Nein, diese Entscheidungen trifft das Gehirn allein, automatisch und anstrengungslos, so wie beispielsweise auch beim Autofahren. Darüber hinaus gehört es u.a. ebenfalls zu den Aufgaben von System 1, den Zorn aus einer Stimme herauszuhören, deutlich einschätzen zu können, welcher Gegenstand weiter entfernt ist als der andere, oder ein Verständnis für einfache Sätze zu besitzen. Außerdem vermag es Informationen über ein Thema zusammenführen und ist geradezu eine Assoziationsmaschine, wenn es darum geht, im permanenten Abgleich von „Innen“ und „Außen“ nach Entsprechungen zu suchen.
Die große Schwäche von Denksystem 1 ist es allerdings, dass es keine Zweifel zulässt, Ambiguität, also das Mehrdeutige unterdrückt und kohärente Geschichten konstruiert, wo es keine gibt. Kein Wunder, dass System 2, welches das konzentrierte Denken repräsentiert und demzufolge auch immer wieder Unsicherheit und Zweifel mit sich bringt, und folglich anstrengende Kopfarbeit bedeutet, von System 1 dominiert wird: Kahneman führt die Dominanz dieses Systems in erster Linie auf die Denkfaulheit des Menschen, oder sollte man besser sagen, des menschlichen Gehirns zurück. Wer aus Angst lieber auf Erfahrungswerte, Gewohnheitsreflexe und kleinmütige Impulse zurückgreift ohne groß nachzudenken, wenn es darum geht, sich in der Welt zurechtzufinden, erspart sich so manche seelische Instabilität und quälende Fragen.
System 1 ist immer aktiv und kann nicht abgeschaltet werden. Ein Automatismus mit schwerwiegenden Folgen: Viele menschliche Entscheidungen sind von Impulsen, Gefühlen und Emotionen geprägt, die einer objektiven Entscheidungsfindung im Weg stehen. Deshalb beherbergt System 1 auch die Verschwörungstheorien, die hier ihren Ursprung haben, für das schnelle System jedoch absoluten Wahrheitscharakter besitzen. Der Mensch, der so denkt, ist beileibe nicht verrückt, das sollte mittlerweile klar sein. Und ebenso wenig hat dieses Phänomen offenkundig auch mit Intelligenz zu tun. Dieser Mensch ist „lediglich“ ein Opfer seines gesunden Gehirns!
Dabei fühlt sich dieser paradoxerweise absolut okay – erfüllt von einer gewissen „kognitiven Leichtigkeit“, ein Begriff, der übrigens ebenso auf Daniel Kahneman zurückgeht:
„Diese kann man sich wie eine Anzeige in einem Cockpit vorstellen, die von „hoch“ bis „gering“ reicht. Eine hohe Leichtigkeit (bzw. Verarbeitungsflüssigkeit) zeigt an, dass für System 1 alles gut läuft: Es passiert nichts Neues, es existieren keine Bedrohungen und es besteht auch nicht die Notwendigkeit, System 2 zu involvieren, um die Aufmerksamkeit auf etwas neu auszurichten. Dieser Zustand fühlt sich wie ein wohltuender Automatismus an, bei dem wir gut gelaunt sind, bei dem wir das mögen, was wir sehen und das glauben, was wir hören. Eine hohe kognitive Leichtigkeit führt somit dazu, dass wir unkritischer und leichtgläubiger werden. Das Gegenteil davon stellt die geringe kognitive Leichtigkeit (bzw. niedrige Verarbeitungsflüssigkeit) dar, bei der irgendwo für System 1 ein Problem besteht und eine verstärkte Mobilisierung von System 2 erfordert. Unser Gehirn muss unsere Aufmerksamkeit und unsere Ressourcen neu ausrichten, was wiederum mit unangenehmer kognitiver Beanspruchung, Anspannung und Unbehagen einhergeht. Infolgedessen werden wir kritischer und skeptischer, aber auch angestrengter und unruhiger.“ (2)
Warum nur will niemand von diesen Erkenntnissen wissen? Doch auch an all den anderen Wahrheiten über den Menschen, die sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt haben und in den Archiven vermodern, sind offenbar nicht mehr von Interesse. Die eigene Geschichte, ja die Wahrheit über sich zerrinnt dem Menschen zwischen den Fingern wie das Wasser, das ihm weltweit mehr und mehr abhandenkommt. Die daraus resultierende geistige Dürre wie dessen Zukunftsangst vernichten das Nachdenken und drängen ihn zur Flucht in die virtuelle Realität, wo nur noch System 1 regiert, um die Dinge leichter und beherrschbarer erscheinen lassen.
(1) Daniel Kahneman: SCHNELLES DENKEN, LANGSAMES DENKEN. Siedler Verlag. München 2012. S 33
(2) ebd. S.81