DER REALITÄT GEHT DIE LUFT AUS
Vor kurzen wurde der Politologe Herfried Münkler gefragt: „Corona, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, Digitalisierung – wo sehen Sie die größte Bedrohung für eine humane Gesellschaft?“ – „Sicherlich im Phänomen des Klimawandel, gefolgt von der Pandemie“, antwortete Münkler. „Beide werden die soziale Ungleichheit vergrößern – innerhalb Deutschlands, aber auch im globalen Rahmen.
REALITÄTSFERNE GEWICHTUNG
Münklers Einschätzung der Lage befremdet, denn die Digitalisierung scheint ihm keine großen Sorgen zu bereiten, sei diese doch problemlos handzuhaben. Also wie ein Werkzeug, das man zu Hilfe nimmt, um Dinge, die man ohne dieses sonst nicht zustande brächte, zu bewerkstelligen. Folglich sollte die deutsche Gesellschaft alles daransetzen, die flächendeckende Einführung der Digitalisierung energisch voranzutreiben. Wenn sich das Land nicht spute und die digitale Revolution verschlafe, falle es unweigerlich auf die hinteren Ränge des globalen Rankings zurück.
Nun soll es im Folgenden partout nicht darum gehen, vor der Digitalisierung blindlings zu warnen wie manche engstirnigen Vorgestrigen – bislang provozierte noch jede neue Technologie in der Geschichte tiefe Ängste im Menschen. So stellt das World Wide Web in diesem Zusammenhang doch eine wirklich hilfreiche und sinnvolle Erfindung dar: Ein Kommunikationsinstrument nämlich, dass es dem Menschen ermöglicht, sich über die Grenzen hinweg mit anderen jederzeit problemlos zu vernetzen und auszutauschen.
Und das ganz nach Belieben und aus den unterschiedlichsten Gründen: Sei es, dass man mit Freunden oder Bekannten unbedingt in Kontakt bleiben will, die es auf einen anderen Kontinent verschlagen hat. Oder dass man sich gegenseitig mit bedeutsamen Informationen oder wirklich Wissenswertem versorgt, zu denen jedermann freien Zugang hat, weil die Dinge und Verhältnisse in einer offenen Gesellschaft stets transparent sein sollten.
So in etwa stellte sich der Gründervater des World Wide Web, Tim Berners-Lee, die gesellschaftliche Realität des Internets vor. Aber die zündende Idee dazu kam dem Physiker ursprünglich nur deshalb in den Sinn, um sich ohne große Umstände mit anderen Kollegen, die nicht in Reichweite waren, jederzeit ins Benehmen setzen zu können, um Daten auszutauschen, sich fachlich zu beraten oder sich mit diesen auseinanderzusetzen.
Aber wie auch immer: Berners-Lee damalige Vision mutet heutzutage überaus idealistisch und aufklärerisch an: Imaginierte dieser doch flache Hierarchien und harmonische Kooperation im Web. Erfüllt von Toleranz und gegenseitiger Achtung und Offenheit. Wie sonst sollte ein solcher Austausch von für das gesellschaftliche Leben Bedeutsamem untereinander überhaupt möglich sein? Gelebt von einer zivilcouragierten Gesellschaft, die der demokratischen Staatsform mithilfe dieses neuen Kommunikationsinstruments einen ungeahnten Schub nach vorne bringen würde.
Doch wie bei jedem anderen Werkzeug kommt es auch beim World Wide Web einzig und allein darauf an, wie man mit dieser Technologie umzugehen weiß und vor allem wozu man diese gebraucht: So kann man mit einer Axt Holz hacken, aber auch jemandem den Schädel spalten. Folglich rückt unweigerlich die menschliche Software in den Focus, die sich dieser Kommunikationsmaschine bedient. Deshalb mag sich der Blick auf die letzten dreißig Jahre Web lohnen, wenn man herausfinden will, was aus der einstigen Vision seines Gründervaters heutzutage geworden ist.
VON DER URSPRUNGSIDEE MEILENWEIT ENTFERNT
Kurz gesagt: Das krasse Gegenteil. Denn offenbar befanden sich die demokratischen Gesellschaften und deren Bürger schon vor der Einführung des World Wide Web in einem ganz anderen als einem wirklich ausgeglichenen und mental-offenen Zustand, der diese dazu befähigt hätte, dieses neue Kommunikationsinstrument in der Weise zu nutzen, wie es sich Berners-Lee einst vorgestellt hatte. Demzufolge hatten sich offenbar schon damals eine nur schwer einzuschätzende Unzufriedenheit mit den Bedingtheiten des gesellschaftlichen Lebens in die Gemüter vieler Menschen eingeschlichen. Denn wie sonst hätte sich das Web so massiv und derart rasch mit dieser offensichtlich weit verbreiteten und tiefsitzenden Verstimmung in den Bevölkerungen anfüllen können, die sich mit massenhafter Häme und unverhohlenem Hass – im virtuellen Raum scheinbar geschützt – über die Jahre hinweg immer drastischer entlud?
In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen: Jede Maschine ist per se erst einmal völlig neutral – und so eben auch das Web. Demzufolge kann es nun wirklich nicht an dieser Kommunikationsmaschine gelegen haben, wenn sich diese immer mehr mit widerlich-geistigem Unflat anfüllte, der sich gegenwärtig in Milliarden Tweets, Posts oder Clips in deren virtuellen Räumen breitmacht.
Auf diese impertinente Art und Weise sorgt der User dieser Tage nun beileibe nicht für flache Hierarchien im Netz, die Berners-Lee damals imaginierte. Von den Verschwörungstheoretikern ganz zu schweigen, die irgendwo ganz oben eine korrupte Clique am Werk sehen, die die Menschen da unten fest im Griff halten soll, und diese mit Chemtrails vergiftet, weil es zu viele von diesen gibt. Oder angeblich Kinder nichtsahnender Eltern verschleppt, weil sie von deren Blut trinken will, um ewiges Leben zu erhalten.
Aber mit seinen blödsinnigen Verdächtigungen, üblen Nachreden und Beschimpfungen, die sich im Handumdrehen zu hasserfüllten Mobbingaufrufen oder ultimativen Todesdrohungen steigern, droht dem User die Menschlichkeit allmählich abhandenzukommen – die Liebe zum Leben und zu seinen Mitmenschen. Wenn die aber schwindet, erstirbt das Lebendige im Menschen auch. HUMAN – STILL HUMAN?
Binnen dreier Dekaden ist das World Wide Web zum großen Teil zu einer Drecksschleuder verkommen. Und dies vor allem in den sozialen Medien, in denen sich gegenwärtig Milliarden von Menschen tummeln, nur um sich dort mit Gleichgesinnten zusammenzutun und sich immer nur wieder übers Gleiche auszutauschen: Die Welt ist schlecht. Lasst euch nicht verarschen. Wehrt euch! Diese offenbar völlig verwirrten und überforderten Individuen scheinen Halt zu suchen. Und den finden sie vermeintlicher Weise offenbar im Web.
Denn dort können diese mächtig angefressenen Gesellschaftsverächter Autor spielen und ihre nebulösen, dumpf eingefärbten Befindlichkeiten in die Welt hinausposaunen. Und das binnen Sekunden rund um den Globus möglichst in die Echo-Räume der sozialen Netzwerke hinein, in denen sie sich mittlerweile so richtig heimelig und aufgehoben fühlen. In virtuellen Weltforen voller Geplapper und Stänkerei, in die sie sich jederzeit einklinken können, wenn sie sich ihres bislang verhohlenen Frusts und Missmuts entledigen wollen. Und das hundsbequem vom eigenen Sofa aus und am liebsten anonym. So treffen deren verbogene Meinungen und jetzt offen zutage tretende Vorurteile im Web milliardenfach nur immer wieder auf dieselben Meinungen und Vorurteile, die sich auf diese Art und Weise in deren Köpfen allmählich derart verdichten, dass sie im Unisono der virtuellen Massen schließlich zu vermeintlichen Fakten gerinnen, die den Lebensmissmut und Menschenhass dieser Querdenker legitimieren, und die Andersdenken desavouieren sollen, die sie sich im Netz kaltschnäuzig vor die Flinte nehmen.
Damit aber ist das Web nun auch zu einer besonders hinterhältigen Destruktions-Maschine verkommen, mit der diese wahnhaft Eingeschworenen auf Facebook, Twitter & Co. versuchen, all diejenigen an die Wand zu stellen, die ihre Ansichten nicht „teilen“, diese mittlerweile sogar als Todfeinde erachten und sie am liebsten jetzt auch auf den Straßen zunichte machen würden. Die virtuelle Masse der Gleichgesinnten haben ihnen offensichtlich Rückenwind gegeben.
Mit diesem destruktiven Sozialgebräu aber, das bislang im Web klammheimlich überwinterte, jetzt aber auf einmal mit nicht geringer Wucht in die Öffentlichkeit überschwappt, geraten die demokratischen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre in eine hochbrisante Situation, in der sich die Dinge ins Absurde verkehren: Denn mittlerweile formieren sich soziale Bewegungen erst einmal rein imaginär im Web, bevor sie tatsächlich Gestalt annehmen und öffentlich in Erscheinung treten. Ausgebrütet in einer Unzahl von soziopathologischen Blasen der sozialen Netzwerke, in denen sich angeblich Erniedrigte und Beleidigte zusammenrotten - verbunden durch neurotisch-verquere Gemeinschaftsgefühle, deren wahren Charakter diese Gesellschaften offensichtlich nicht mehr zu evozieren wissen, geschweige denn noch hinreichend aufrechtzuerhalten in der Lage sind.
Vor diesem Hintergrund schwinden in den Demokratien aber auch zusehends die Empfindungen von Solidarität und Empathie, die vom alltäglichen defätistischen Geplapper und aufrührerischem Gezeter im Web allmählich zermürbt werden, da die eigentliche Sozialisation vieler offenbar nur noch im geistigen Dreck dort stattfindet. Eine hochbrisante Entwicklung, der gegenüber sich die demokratischen Gesellschaften offensichtlich als ohnmächtig erweisen, da diese doch auf dem absoluten Grundrecht auf Meinungsfreiheit beruhen, das schließlich für alle gilt.
CHINA UND USA
Wie brandgefährlich und letztlich auch machtvoll der Einfluss des Internets auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt geworden ist, zeigt sich am Beispiel der beiden Supermächte USA und China auf erschreckende Art und Weise. Lässt sich der gesellschaftliche Zustand, in dem sich diese beiden Länder gegenwärtig befinden, ohne das Phänomen des Internets – wenn auch aus völlig gegensätzlichen Gründen – nicht mehr adäquat verstehen.
So scheint das amerikanische Web, das von Dumpfheit und Rigidität nachgerade überläuft, die Menschen im Land gegenwärtig derart aufzuheizen, dass die vielfältigen Konflikte, die dieses schon immer beutelten, derart chaotische Züge angenommen haben, dass schon allenthalben von bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen die Rede ist. In China jedoch scheint Ruhe zu herrschen, wenigstens aus der Distanz und rein oberflächlich gesehen. Hat die Diktatur dort doch das World Wide Web kurzerhand durch ein staatseigenes Netz ausgetauscht, mit dem sie nun jeden Schritt ihrer Bürger rund um die Uhr perfekt überwacht, und diese jetzt auch noch mithilfe des neu eingeführten Sozialkreditsystems, das deren Verhalten durch Punkte bewertet, gnadenlos diszipliniert.
Der aberwitzige Zustand beider Länder aber überrascht nur auf den ersten Blick. Denn der enorme Einfluss und die ungeheure Machtausübung ,den diese digitale Kommunikationsmaschine unter extremen Umständen auf den Menschen ausüben kann bzw. erlaubt, sind wahrlich nicht zu unterschätzen. Denn während sich vor allem die weißen Bürger in den USA mit tumb-aggressiven Attacken auf Facebook oder halbgar-gedanklichem Defätismus auf Twitter oder Telegram gegenseitig an den Hals zu gehen versuchen, kochen deren bleiche Gemüter vor Wut und Hass derart auf, dass sich deren zerstörerischen Energien nun konsequenterweise auch immer ungezügelter und unkontrollierbarer auf den Straßen dort entladen. Dagegen aber haben die chinesischen Bürger jedoch nicht die geringste Chance, das Internet als ordinären Kampfplatz zu benützen, da das Politbüro Chinas das Internet gnadenlos zensiert und überwacht, und damit schon den geringsten Versuch im Keim erstickt.
Auf diese Weise hat China mit dem staatseigenen Internet eine alles und jeden kontrollierende Unterdrückungsmaschine erschaffen, wohingegen die USA unter dem Einfluss des Webs als Drecks- und Schmähschleuder immer mehr aus den Fugen geraten. Anheizen oder Unterdrücken – beinahe alles scheint mit dieser Maschine möglich. Es kommt eben ganz darauf wann, wie und wozu man sie gebraucht.
Doch in einem Punkt konvergieren beide Supermächte auf eine beinahe schon erschreckend banale Art und Weise. Denn sowohl in den USA als auch in China scheint die Abhängigkeit vom Internet unter deren Bürgern pandemisch zu grassieren, sodass deren alltägliches Leben ohne dieses praktisch nicht mehr vorstellbar ist. Demzufolge stellt diese Tatsache den Dreh- und Angelpunkt dafür dar, warum es für das chinesische Regime überhaupt erst möglich geworden ist, seine Bürger mithilfe dieses technischen Instruments derart engmaschig zu kontrollieren und knallhart zu unterdrücken. Wobei auch das gesellschaftliche Chaos, das gegenwärtig in den USA herrscht, ohne die multiple Internetabhängigkeit der amerikanischen Bürger, die rund um die Uhr am Smartphone hängen, nicht denkbar wäre. Demzufolge sähe die Welt ohne das Smartphone mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur in den USA oder China sicherlich ganz anders aus.
WELTVERDREHUNG À LA USA
Aber auch in den USA wird das Internet staatlicherseits mittlerweile ganz offiziell zur Gehirnwäsche benutzt. Bedient sich doch der noch amtierende Präsident des Landes schonungslos des Web, um die Supermacht mit äußerst dubiosen und autokratischen Methoden unter Zuhilfenahme von Twitter in die Zange zu nehmen. Doch dies erregt kaum Widerspruch im Land, obwohl diese Tatsache schon für sich genommen ein Skandalon für die amerikanische Demokratie darstellt. Stattdessen aber redet sich alle Welt über dessen Tweets die Köpfe heiß, als wären diese schon an Irrsinn grenzenden Lügenkampagnen Staats-Bulletins.
Mit seinen Tweets aber weiß der amerikanische Präsident auch seine 87 Millionen Follower – medienerprobt und demagogisch gerissen wie er nun einmal ist – an der kurzen Leine zu führen: Mit täglich neu verdrehten Fakten und steilen Establishment-Attacken bombardiert er seine Fans bis zur Besinnungslosigkeit und scheint dabei genau zu wissen, dass seine Lügen-, Häme- und Hassbotschaften in deren Köpfen im Handumdrehen zur Wahrheit mutieren, weil sie allesamt den Verschwörungstheorien, die sich in den sozialen Netzwerken wie Brandfeuer ausbreiten, besinnungslos unterliegen und damit mit ihm in einer Parallelwelt leben. Deshalb gelingt es ihm auch immer wieder, seine Follower mit entsprechenden Tweets gewaltbereit auf die Straßen zu bringen, wenn es seiner Meinung nach darum geht, dem korrupten politischen System des Landes endlich ein Ende zu bereiten. – „Die Tweets von Trump können Massensterben auslösen“, so T. C. Boyle.
Jetzt aber stellt sich der abgewählte Präsident in seinen Tweets als Opfer eines umfassenden Wahlbetrugs dar, den seine demokratischen Kontrahenten zu verantworten hätten, weil die ihm die entscheidenden Stimmen zum Wahlsieg gestohlen hätten. Das aber bringt jetzt selbst Twitter gegen das republikanische Staatsoberhaupt auf, dessen Tweet-Zwitschern das Unternehmen nun endlich mit Warnhinweisen markiert, die unübersehbar auf dessen verlogene Botschaften hinweisen.
Das aber bringt die ohnehin schon aufgeheizten Fans des psychopathischen Präsidenten, die diesen als Retter der weißen Rasse abgöttisch verehren, an den Rand eines veritablen Realitätskonflikts. Denn mit einem Mal steht die Welt auf dem Kopf, weil Wahrheit auf einmal Lüge, und Lüge Wahrheit sein soll.
Um die drohende Spaltung ihres Verstandes abzuwenden und bloß nicht verrückt zu werden, haben die sich urplötzlich im Niemandsland wiederfindenden Follower jetzt deshalb die Flucht nach vorn angetreten, und sich von den großen sozialen Netzwerken abgewandt. Wobei sie auf der Suche nach ihrer alten Welt glücklicherweise rasch fündig geworden sind, und die ihre urplötzliche Sinnkrise damit unbeschadet überstanden zu haben glauben.
Denn auf Parler, einer sozialen Plattform für Mikroblogging, fühlen sich die Fans des Präsidentendarstellers nun wieder heimatlich geborgen, gilt hier doch scheinbar wieder all das, womit sie sich in ihrer Wirklichkeit bislang eingerichtet hatten: Free speech nämlich, also Auskotzen um jeden Preis, und keinerlei Fact-checking, was ihnen die Plattform hundertprozentig garantiert:, „In keinem Fall wird Parler auf der Grundlage der im fraglichen Post zum Ausdruck gebrachten Meinung entscheiden, welche Inhalte entfernt oder gefiltert werden oder wessen Konto entfernt wird“, heißt es in den Nutzerrichtlinien.
So nimmt es auch nicht weiter Wunder, wenn sich seit dem Wahlsieg des demokratischen Joe Biden binnen kurzem bereits 4,5 Millionen Amerikaner bei Parler angemeldet haben, ein Medienunternehmen, dass Fake News und Verschwörungstheorien, französisch charmant, mit Sprechen als Branding verkauft und heuchlerisch vorgibt, sich für die Meinungsfreit zivilcouragiert einzusetzen. So hat sich jetzt auch die Anzahl der täglichen User dort um das Achtfache erhöht. „Election Fraud“ und „HoldTheLine“ lauten die entsprechenden Hashtags, mit denen sich die Trumper nun wieder ungehindert warmlaufen, um sich am angeblichen Wahlbetrug an ihrem vergötterten Präsidenten zu rächen und weiterhin für die Demontage der amerikanischen Demokratie zu sorgen, um diesem endlich wieder ins Amt zu verhelfen.
Aber auch YouTube hält nach wie vor mutig und unbeirrt zum geistig verwirrten amerikanischen Bürger. Denn auch auf dieser Plattform werden der Analyse von transparancy.tube zufolge Falschinformationen über den Wahlbetrug praktisch unzensiert und millionenfach weiterberbreitet: „YouTube muss viel verändern, damit sich das 2022 und 2024 nicht wiederholt«, urteilt Alex Stamos von der Universität Stanford, der diese Untersuchung maßgeblich leitet.
In diesem Zusammenhang bezeichnet Stamos die US-Wahl 2020 als „das größte digitale Desinformationsereignis der US-Geschichte“. Denn anders als bei vorangegangenen Wahlen würden Falschinformationskampagnen heutzutage nicht mehr vorwiegend aus dem Ausland, sondern vornehmlich aus dem Inland stammen. Und deren Wirkung sei offenbar schlagend: Denn mittlerweile glaubt eine überwältigende Mehrheit der Trumper, dass Bidens Wahl durch reinen Betrug zustande gekommen sei.
Hinsichtlich dessen scheint die amerikanische Gesellschaft dieser Tage vom Furor der sozialen Netzwerke bis zum Zerreissen gebeutelt zu werden. Unversöhnlich und hochaggressiv findet sich das bereits in zwei Hälften gespaltene Land im sozialen Chaos wieder – Blau gegen Rot. Dessen Bürger scheinen mittlerweile in zwei sich völlig widersprechenden Realitäten zu leben.
China hingegen hält die diktatorische Realität seines Regimes fest in der Hand und benutzt das Internet schamlos dazu, das rigide Weltbild seiner allgegenwärtigen Präsenz in den Köpfen seiner Bürger mit menschenverachtenden digitalen Methoden bedingungslos aufrechtzuerhalten. Ein Weltbild, dass viele Chinesen mittlerweile schon mit veritabler Freiheit verwechseln, weil ihnen der allmächtige Staat wohlweisslich das Smartphone nicht nimmt. Insoweit sind nicht nur China, sondern auch die USA allein aufgrund der spezifischen Rolle, die das Internet in diesen Ländern spielt, von einer humanen Gesellschaft weit entfernt.
BOTS ALS KOMMUNIKATIVES DESASTER
Doch bei allem: Auch in den demokratischen Ländern Europas ist die Kommunikationsweise im World Wide Web im Prinzip nicht weniger aggressiv und destruktiv als in den USA, obwohl bei weitem noch lange nicht so radikal ausgeprägt wie dort.
So spuken auch in den sozialen Netzwerken Europas sogenannte Bots herum, die der Tatsache, dass die Web-Maschine selbst keinerlei Inhalt produzieren kann, erst einmal zu widersprechen scheint, gehören solche Bots doch in die Kategorie der automatischen Schreibprogramme. Aber in Wirklichkeit sind auch solche Bots nichts anderes als vom Menschen geschaffene Softwareprogramme, mit deren Hilfe extrem reaktionäre Posts scheinbar realer User ins Web eingeschmuggelt werden, um anderen die Welt madig zu machen, und diese auf deren demokratiefeindlichen und rückwärtsgewandten Inhalte einzuschwören.
Doch dass sich hinter diesen hinterhältigen Attacken reale Menschen verstecken, die den User hinters Licht führen, soll dieser natürlich nicht bemerken. Geht es in diesem Zusammenhang doch ausschließlich darum, mit maschinell erzeugten Posts, die eine Masse angeblicher Follower vortäuschen, reale Mehrheiten zu generieren, sollten User auf diesen wirklichkeitszersetzenden Coup hereinfallen - vor allem deshalb, weil offenbar viele andere diesen rechtsradikalen Parolen zu folgen scheinen.
In Twitter reagieren diese Bots, die mit absolut realistisch wirkenden Accounts und Profilbildern perfekt gefälscht sind, aufgrund vorprogrammierter Keyword-Suche gezielt auf eindeutig reaktionäre Hashtags im Web, worunter diese dann völlig automatisch Falschinformationen absetzen, und diejenigen User, die dort ohnehin schon in hochreaktionären Gefilden unterwegs sind, scheinbar problemlos in ihrer engstirnigen Gesinnung abholen und diese dazu animieren, sich in die Masse Gleichgesinnter einzureihen und sich mit deren Haltung maßgeblich zu identifizieren.
Dass ein solcher, zunächst rein virtueller Köder im Kopf eines instabilen und selbstunsicheren Charakters durchaus reale Folgen haben kann, mag erstaunen. Warum aber sollten Bots im Web sonst überhaupt zum Einsatz kommen, wenn mithilfe derer keine konkreten Resultate zu erwarten wären? Sind derartig ausgefuchste Softwareprogramme doch wahrlich keine Computerspielchen, sondern offenkundig blutiger Ernst, aggressiv-fortschrittsfeindliche Mehrheiten zu generieren, die für einen imaginären rassistischen Staat stehen, in dem nur sie das Sagen haben.
Denn mit der Masse Gleichgesinnter im Hirn, das die Täuschung aufgrund seiner kognitiven Schwachstellen nicht unbedingt checkt, fühlt sich der Mensch mit seiner Privatsicht mit einem Mal nicht mehr allein, sondern quasi aufgehoben in einer für ihn scheinbar real existierenden Gemeinschaft von Abermillionen, die ihm in seiner wahnhaften Vorstellung dazu verhelfen, den eigenen Lebensfrust und die daraus resultierenden Hassgefühle wie selbstverständlich zu objektivieren und damit gesellschaftsfähig werden lassen.
So nimmt es nicht weiter Wunder, wenn dieser durch Bots mächtig Angestachelte jetzt selbst zu einer Art Bot wird, der nicht mehr davon ablässt, im Web nun ebenfalls nach Gleichgesinnten zu suchen, um seine aufkeimenden, mit Größenwahn unterfütterten Machtgelüste am Leben zu erhalten und diese möglichst zu steigern. Damit aber fallen in jenem auch mehr und mehr die Hemmschwellen, mit seiner defätistischen Haltung noch länger mehr hinterm Berg zu halten – im virtuellen Schulterschluss mit all denjenigen verbunden, die mit ihm an einem Strang ziehen und jederzeit Rückendeckung geben.
Dass Kommunikationsmaschinen wie Bots, die mit den Hirnen der Bürger Schindluder treiben und Demokratien unterwandern sollen überhaupt noch erlaubt sind, macht sprachlos. Obwohl die Konsumindustrie im Grunde ja auf ganz ähnliche Art und Weise operiert, wenn es darum geht, das Unbewusste des Konsumenten mit derart üblen Methoden zu manipulieren, dass dieser auf einmal Bedürfnisse entwickelt, die er von sich womöglich noch gar nicht kannte. Dagegen scheint es nachgerade harmlos, jemanden in seiner ohnehin schon bekannten Meinung abzuholen – schließlich herrscht in jeder Demokratie das Recht auf freie Meinungsäußerung.
BEDROHLICHE PERSPEKTIVEN
Doch so oder so – mit jedem Tag scheint die Masse der antidemokratischen Weltverächter im Web praktisch unaufhaltsam anzuwachsen, währenddessen sich deren Selbstwertgefühl in dessen virtuellen Räumen auf hochbrisante Art und Weise mehr und mehr stabilisiert und steigert. Eine Entwicklung, die die demokratischen Gesellschaften Europas vor allem von innen heraus zusehends bedroht, vorangetrieben von kognitiv Verirrten, die mit dem Leben nicht mehr viel anzufangen wissen, und sich deshalb einen Panzer aus Wut und Hass angelegt haben, mit dem sie dieser Tage aus dem Dunkel der sozialen Netzwerke mächtig hervordrängen, um dem bunten Leben draußen endlich den Garaus zu machen.
Es ist wahrlich eine soziale Höllenmischung, die sich da aus den unterschiedlichsten Charakteren und gesellschaftlichen Schichten dieser Tage im Web zusammenbraut und auf den ersten Blick nicht das Geringste zu verbinden scheint – weder ideologisch noch existentiell. Doch bei näherer Betrachtung offenbart sich deren dumpfes und völlig diffuses Gemeinschaftsgefühl, das sie gehörig zusammenschweißt und sich mit einem prinzipiellen Dagegensein Ausdruck verschafft. Eine völlig amorphe, von nichts als Frustrationen und Enttäuschung angetriebene Masse, die unlängst noch als sogenannte Gelbwesten die Städte Frankreichs bevölkerte, sich nun aber auch in ganz Europa als eine wild durchmischte Unzahl von Identitätslosen immer mehr in den gesellschaftlichen Vordergrund drängt und die Schlagzeilen der Medien beherrscht.
In dieser Form scheint dieser blindwütige Aufruhr wie um seiner selbst willen zu geschehen – ohne wirkliches Motiv oder tatsächliche Überzeugung, wie dies nun auch am Beispiel von COVID-19 drastisch zutage tritt: Weil Masken vor dem Virus schützen, trägt man jetzt eben keine! In diesem Zusammenhang aber von der Maske als Politikum zu sprechen ist, ist völlig abwegig. So bedeutet auch die Tatsache, einen Bart zu tragen, noch lange nicht, damit eine politische Überzeugung zum Ausdruck bringen zu wollen.
Doch die ans Absurde grenzende mentale Aberration solcher Menschen ist nur schwer beizukommen, da diese deren Charakter offensichtlich bald steif und hartnäckig werden lassen. Deshalb muss bei diesen auch jedes wohlwollende Zureden und jeder beflissene Appell an die Vernunft schon im Ansatz scheitern. Die Leute reden nicht mehr miteinander – allein an diesem Befund wird überdeutlich, was in den demokratischen Ländern mittlerweile Sache ist.
So scheinen diese geistig Verbogenen mittlerweile in ganz anderen Realitäten zu leben als die meisten Menschen in der Gesellschaft. In höchst subjektiv imaginierten Wirklichkeiten nämlich, in denen im Vergleich zum vorherrschenden Bild, das die gesellschaftliche Realität prägt, offensichtlich ganz andere Gesetzmäßigkeiten gelten: Die der unerbittlichen, unkontrollierten und hemmungslosen Rage gegen alles Lebendige nämlich, das als pervers, verrucht, libertär und gotteslästerlich in den Dreck gezogen wird.
Von Menschen, die sich in den illusionären Sphären einer überkommenen Welt verfangen haben, in der die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zunehmend zu einem geistigen Einheitsbrei verschwimmen, in dem Inhalte nichts mehr zählen, Neid und Hass hingegen zum Lebensinhalt geworden sind. Psycho-soziale Querströmungen, die das gesellschaftliche Leben zunehmend unterwandern und andere mit selbstunsicheren und wankenden Charakterstrukturen leicht affizieren und rasch in ihren Bann ziehen. Die um sich greifende Tendenz, sich über alles und nichts immerfort zu empören, scheint in diesem Zusammenhang die spätbürgerlich-feige Spielart dieser weltverachtenden Haltung zu sein.
Solch rigide Gefühle und steinerne Herzen aber bilden wohl den gesellschaftlichen Bodensatz, auf dem das hochgiftige Sozialgestrüpp aus Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus und Homophobie kräftig in die Höhe schießt und sich zusehends auch in die sogenannte Mitte der demokratischen Gesellschaften hineinfrisst. Beackert von Menschen, die nicht selten von atavistisch-eingefärbten pseudoreligiösen Wahnvorstellungen wie besessen erscheinen. Wahrhaft gespenstische Erscheinungen, die schon einmal in der Geschichte der deutschen Demokratie den Garaus machten – der Führer als Gott.
So betreten jetzt auch Evangelikale die turbulent-aufgeheizte Szene, um den vom Wege abgekommenen Mitmenschen ihre seelisch-tumben Wunden, die ihnen das angeblich so verruchte Leben zugefügt hat, vor lauter Betroffenheit entgegenzuhalten. Wie in Trance mischen sich diese nun auch auf den Straßen unter die Aufbegehrenden, als wollten sie deren Marsch durch die Städte mit inbrünstiger Gottesverzückung gehörig überhöhen. Christen im Widerstand, die inbrünstig „Halleluja“ und „Keine Masken, keine Impfung“ singen und dabei mit geschlossenen Augen ekstatisch ihre Arme gen Himmel recken, als wollten sie dort einen zürnenden Gott flehentlich besänftigen.
Den aber sehen viele der Mit-Marschierenden längst schon im noch amtierenden Präsidenten der USA, der sich aufgrund seiner Wahlniederlage nun seinerseits mit heiligem Zorn an all denjenigen zu rächen versucht, die ihn in seinem von ihm wohl als ewig erachteten Hochamt nicht bestätigen wollten. Doch damit nicht genug: Denn jetzt soll unter seinem scheinbar durch nichts zu stillendem Furor darüber hinaus auch noch die gesamte amerikanische Nation leiden, der er in den letzten Wochen seiner Herrschaft noch jeden erdenklichen Schaden zufügen will. Sollen doch alle mit ihm untergehen oder wenigstens für immer an ihn denken müssen.
TEIL 3 FOLGT