RESILIENZ

1. Februar 2021
Peter Mussbach Blog

Immer wieder ist in diesen Tagen von Menschen die Rede, die die erstaunliche Fähigkeit besitzen, schwere Krisensituationen, seien sie nun persönlicher, gesellschaftlicher oder natürlicher Genese, ohne anhaltende psychische Beeinträchtigung zu überstehen. Und dies aufgrund profunder Überlebensstrategien, die sich im Fachjargon Resilienz nennen. Carl Laszlo, der sage und schreibe fünf KZ-Internierungen im Nazi-Deutschland überlebte, bevor er 1945 nach Basel auswanderte, wo er als Kunsthändler, Sammler und Psychoanalytiker bis zu seinem Tod im Jahre 2013 lebte, ist hierfür ein schier unglaubliches Beispiel. Er ließe sich sein Leben nicht von Hitler verderben, sagte dieser lange nach dem Holocaust einmal lachend in die Kamera.

Die vermehrte Aufmerksamkeit für Menschen mit dieser verblüffenden Gabe spricht für sich: Immerhin leidet dieser Tage die ganze Welt unter der katastrophalen COVID-19-Pandemie, die viele an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit bringt und mehr und mehr zermürbt. Eine globale Virus-Pandemie, die nicht nur das Leben der Älteren massiv bedroht, sondern darüber hinaus auch die Existenz von Millionen anderer, die Hals über Kopf in die Insolvenz schlittern. Und natürlich sind es wieder einmal die Ärmeren, die von dieser Katastrophe am härtesten betroffen sind, und nicht mehr ein noch aus wissen.

Doch auch diejenigen, die nicht unmittelbar von dieser Megakatastrophe betroffen sind und sich in Sicherheit wähnen wie die Jüngeren, haben es extrem schwer: Denn mit den rigiden Kontakteinschränkungen und dem Lahmlegen des öffentlichen Lebens bleibt auch diesen nichts Anderes übrig, als gezwungenermaßen in den eigenen vier Wänden zu überwintern. Was diese ganz persönlich mächtig unter Druck geraten lässt, weil sie sich urplötzlich auf sich selbst zurückgeworfen sehen – ob sie nun wollen oder nicht. Und das kann brenzlig werden.

Da scheinen resiliente Menschen, die sich selbst in solch niederschmetternden Zeiten einen seelischen Schutzpanzer anlegen und sich dem Geschehen couragiert entgegenzustellen wissen, das Glückslos gezogen zu haben. Denn offenbar besitzen diese eine beneidenswerte Anpassungsfähigkeit, sich geschmeidig auf innere oder äußere Krisensituationen einzustellen und sich den veränderten Bedingungen gemäß neu zu positionieren, ohne dabei den Kopf zu verlieren.

Interessanterweise leitet sich der Begriff der Resilienz aus der Physik ab und beschreibt die besondere Elastizität bestimmter Materialien, die nach der Verformung durch Druck oder Belastung schnell wieder in ihre ursprüngliche Form zurückfinden wie ein Schwamm. Im Sinne dessen besitzt das Innenleben von Menschen mit einer derartig ausgeprägten psychischen Widerstandskraft offenkundig eine bemerkenswerte Plastizität, die es ihnen ermöglicht, so flexibel auf sie bedrohende Faktoren zu reagieren, dass sie sich psychisch nicht zermürben lassen.

Dabei gelingt es diesen Menschen, die negativen und sie niederdrückenden Energien, die jede wie immer auch geartete Krise ja unweigerlich mit sich bringt, ganz unmittelbar auf sich wirken zu lassen, statt diese, panisch vor Angst, beiseiteschieben zu wollen, was die Sache letztendlich ja nur noch schlimmer macht. Resiliente Menschen aber scheinen ihre Ängste derart unter Kontrolle bringen zu können, dass sie die besondere Dynamik und Qualität der sie bedrohenden Einflüsse adäquat erspüren und diese in sich gleichsam ins Positive verkehren, indem sie sich klaren Kopfes auf Wege besinnen, um selbstbestimmt und wachsam durch die Krise zu finden.

Insoweit erleben Resiliente solch dunkle Lebensphasen immer auch als einen regelrechten Ansporn, den schweren Belastungen auch wirklich Stand zu halten und die Misere bestimmt zu meistern. Dabei auch immer offen für neue, ungeahnte Erfahrungen, die sie unter anderen Umständen sonst nie gemacht hätten und womöglich innerlich auch einen gehörigen Schritt weiterbringen. So sind es doch vor allem die Krisen, an denen man wächst, und nicht die Glücksmomente, in denen man sich vergessen darf.

Die unbedingte Lebenszuversicht ist es, die resiliente Menschen im Grunde charakterisiert. Erfüllt von einem unverwüstlichen Optimismus, sich nicht kleinkriegen und vom eigenen Lebensweg, abbringen zu lassen. Nicht auszudenken, wenn es mehr von solchen Menschen gäbe, dann sähe es auf der Welt vermutlich ganz anders aus. Doch leider Gottes scheinen deren individuellen Qualitäten immer weniger von Belang. Denn die mentalen Fähigkeiten, auf denen deren Selbstverantwortlichkeit und Krisenfestigkeit beruhen, scheinen im gesellschaftlichen Leben zunehmend an Bedeutung zu verlieren und zu verkümmern – dies allerdings schon lange bevor die COVID-19-Pamdemie die Welt lahmzulegen begann.

Am Phänomen des allgemein grassierenden Selbstoptimierungswahns, der verzweifelten Solonummer des durchökonomisierten und zunehmend vereinsamenden Individuums, immer fitter, attraktiver und jugendlicher zu werden, wird dies überaus drastisch anschaulich: Lässt sich der Selbstoptimierer doch weniger von seinem Selbst als vielmehr von außen steuern und orientiert sich wie besessen an den schablonierten Schönheits- und Lifestyleidealen einer schrill-absurden Selbstverwirklichungsindustrie, die diesen mit ihren For-ever-young-Produkten per ultimativen Ratgeber- und App-Programmen rund um die Uhr versorgt. So garantiert die App Freeletics „die beste Form deines Lebens“ und die Psychologin Stefanie Stahl den absolut richtigen Partner, wenn man nur ihr Buch „Jeder ist beziehungsfähig“ zur Hand nimmt.

Dass das Selbst des blindwütigen Optimierers dabei aber auf der Strecke bleibt, spricht für sich. Gibt es doch keine fatalere Methode, sich permanent aus dem Weg zu gehen, als den gestanzten Maximen der Ichindustrie auf den Leim zu gehen, und deren Parolen mit seiner inneren Stimme zu verwechseln. Pausenlos im Fitnessstudio an Gewichten zu ziehen oder mit halbstarrem Blick aufs Smartphone gelangweilt auf seinen Salatblättern herum zu kauen, macht wahrlich nicht heiterer und gelassener. Deshalb fallen diese scheinbar so Durchtrainierten, seelisch aber tatsächlich völlig Ausgelaugten, im Lockdown auch mehr oder weniger rasch in sich zusammen wie ein Kartenhaus: Sich urplötzlich mit sich selbst konfrontiert zu sehen und gezwungenermaßen in nichts als innere Leere blicken zu müssen, ist ein schwerer Schock, der nicht so ohne Weiteres mehr abklingen mag: Ohne der Welt in seinem Inneren etwas entgegenzusetzen, wird man schnell zum Spielball der Verhältnisse.

Menschen mit einem derart instabilen Ich, von denen es mehr gibt als man denkt, haben sich in einen Kokon aus Werbeblasen eingesponnen und leben in der Eintönigkeit ihrer Desorientiertheit – immer wieder vor dem Spiegel und völlig gestresst – so dahin. Vom Auf und Ab des Lebens haben sie offenbar keine Ahnung mehr. Nur noch von dem ihres Gewichts und der täglichen Anzahl ihrer Schritte, die sie nun gingen oder auch nicht. Das rächt sich gegenwärtig: Diese Selbstoptimierer müssen sich vorkommen, als hätte man ihnen den Lebenssinn kastriert.

Aber im Gegensatz zu diesen, die ziellos auf den Fettaugen der Wohlstandsgesellschaft herumschwimmen und ihren Erlebnishunger auf Nulldiät gesetzt haben, verlassen sich resiliente Menschen ganz und gar auf ihr eigenes Selbst. Denn dieses gilt ihnen als die einzig bestimmende Größe, um sich im Leben zu orientieren und zurechtzufinden. Deshalb bauen sie auch auf Selbstwahrnehmung, Selbstgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstreflexion – Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichen, selbstgewiss und offen durchs Leben zu gehen. Auf diese Art und Weise hören sie beständig in sich hinein und wissen auf ihre inneren Impulse entsprechend zu reagieren. Stets im Ausgleich mit sich und der Welt um sie herum gelingt es ihnen offenbar, ihre Gefühle im Zaum zu halten und zu regulieren, weshalb sie auch gelassen und neugierig der Zukunft ins Auge blicken. Schließlich hat man nur ein Leben.

Gemeinsam mit anderen allerdings: Denn ohne enge Freunde, für die sie einstehen und auf die sie sich hundertprozentig verlassen können, wären auch resiliente Menschen bald ziemlich verloren. So hilft ihnen ihr empathisch-zugewandtes Wesen sich sozial fest zu verankern und auch in düsteren Zeiten nicht unterkriegen zu lassen. Vor allem wenn es darum geht, sich gegenseitig zu unterstützen oder zu helfen. Eine Tugend, die zunehmend aus der Mode kommt. Rette sich, wer kann, lautet heutzutage die Devise, als stünden alle auf einem sinkenden Schiff.

Menschen ohne eigenen inneren Kern und bar jeglicher sozialen Kompetenz müssen nachgerade zwangsläufig jede innere oder äußere Krise als ein mehr oder weniger großes persönliches Desaster erleben. Und da sie sich selbst nicht vertrauen, vermögen sie auch anderen nicht zu trauen. Am allerwenigsten aber der Zukunft, der sie aufgrund der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie noch düsterer entgegensehen. Deshalb wollen sie auch unbedingt ihre „Normalität“ zurück. Ihr eintöniges und geistloses Leben also, das es als scheinbar nie endendes Heute schließlich noch vorvorgestern gab. Ihr Unmut wächst. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Und das kann gefährlich werden.

Identitätslose ohne Selbstwertgefühl, die ihre Hülle mit sich selbst verwechseln, haben es auf der krisengebeutelten Welt mittlerweile immer schwerer. Stammen sie doch aus Zeiten, in denen angeblich noch alles paletti war, da die Welt ihnen alles zur Verfügung stellte, was sie brauchten, um dem Sinnlosen zu frönen und einigermaßen über die Runden zu kommen. Alles andere schien ihnen egal.

Doch dieser Menschentypus hat ausgedient. Er passt nicht mehr zur Welt. Die Evolution wird ihn aussortieren. Wie auch die zu ihm passende Ökonomie, die den Globus ruinierte, um sich an den Identitätslosen schadlos zu halten.

Krisen vermögen den Menschen zu stärken und zu positiven Veränderungen zu bewegen. Das ist die frohe Botschaft, die in diesen Tagen beinahe unterzugehen droht. Das Leben resilienter Menschen ist hierfür ein klarer Beweis. Denn ohne durch schwere Krisen gegangen zu sein, hätten diese ihre psychische Stabilität und Widerstandskraft nie erworben. Aber diese Fähigkeiten sind offenbar nicht an den Charakter gebunden, sondern für jedermann erlern- und erfahrbar. Aber nicht durch Geräte oder Apps, sondern einzig durchs Leben, das durch dessen Höhen und Tiefen ja erst wirklich an Spannung gewinnt – spannend wird.