AHNUNG UND ZUFALL
Teil 2
Als ich spät in der Nacht hundemüde über die Treppe ins Schlafzimmer hochgehe, fällt mir zufälligerweise das farbige, halbseitig auf einer vergilbten Zeitungsseite abgedruckte Bild wieder ins Auge, das ich vorhin beinahe gemeinsam mit einem Stapel alter Zeitungen draußen in die Papiertonne geworfen hätte. Es liegt auf der Kommode unten im Flur, wo ich es vorhin auf dem Weg zurück ins Haus abgelegt und wieder vergessen hatte. Erstaunt halte ich inne: Offenbar will mich das ominöse Bild erneut auf sich aufmerksam machen und drängt mich förmlich dazu, mich näher mit ihm zu beschäftigen – wie magisch leuchtet es da unten im Dämmer auf.
Verwirrt blicke ich mich um – wie kann das sein? Als ich einen Moment später das Licht vom oberen Stockwerk bemerke, das rein zufällig auf die Kommode unten im Flur fällt, lache ich ungläubig auf. Das war wohl immer so gewesen, doch offensichtlich hatte ich das nie so richtig wahrgenommen. Erheitert drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe beschwingt die paar Stufen wieder zurück in den Flur hinunter, schnappe mir das aufdringlich wirkende Bild und ziehe mich mit diesem in mein Arbeitszimmer zurück, wo ich es mir unter dem neutralen Licht der Schreibtischlampe und mit meiner Brille vor Augen genauer ansehen will. All meine Müdigkeit ist auf einmal verflogen, wobei mich jedoch urplötzlich die nebulöse Ahnung wieder erfasst, dass mir das Bild irgendetwas sagen wolle – ich müsse mich nur darauf einlassen, alles andere würde sich dann schon ergeben.
Auf den ersten Blick mutet das eigenartige rechteckige Bild wie ein abstraktes Aquarell an, das von einem zeitgenössischen Künstler stammen könnte. Und dennoch vermeine ich bei genauerer Betrachtung in den verwaschenen Konturen etwas erkennen zu können: Von unten scheinen dichte schwarzdunkle Nebelschwaden aufzusteigen, die nach oben hin jedoch bald in tiefem Blau aufzuleuchten beginnen, bis diese dann immer lockerer und durchscheinender werden und schließlich wie Wolken im Ungefähren verwehen. Darunter offenbart sich allmählich eine schier endlose Weite, die sich allerdings jeglicher Konkretion entzieht: Rötlich schimmernd zieht sie sich bis zum Horizont in der Ferne dahin, über dem schlussendlich ein unwirklich grün schimmernder Himmel zu erahnen ist.
Irritiert halte ich inne, als ich mit einem Mal bemerke, dass ich das Bild schon vor geraumer Zeit aus irgendeiner Zeitung herausgerissen hatte. Und dies doch wohl nur deshalb, weil mich das Bild schon damals fasziniert haben musste. Aber so sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern, wann das gewesen sein soll? Aber auch das Bild selbst ist mir offenbar nicht im Gedächtnis haften geblieben, sonst hätte ich es heute Abend an der Papiertonne ja sofort wiedererkennen müssen.
Wie manche Dinge im Kopf doch funktionieren. Oder wie sie eben nicht funktionieren. Das wird mir am Beispiel meines Erinnerungsvermögens jetzt wieder einmal drastisch vor Augen geführt. So weiß ich zwar mittlerweile, dieses Bild schon einmal gesehen zu haben, obwohl es mir dann, wenn ich es ansehe, völlig unbekannt vorkommt – eine wirklich groteske Situation. Dabei könnte mir mein Kopf doch wenigstens eine kurze Info zukommen lassen, wie zum Beispiel: Pass auf, du hast das Bild schon einmal gesehen. Doch wo und wann das gewesen sein könnte, wissen wir hier oben noch nicht genau, aber wir arbeiten mit Hochdruck daran. Doch nichts davon, mein Kopf bleibt stumm und scheint sich aus der Sache herauszuhalten, als gehöre er nicht zu mir.
Eine fatale, wohl allseits bekannte Situation, in die jedermann im Verlauf seines Lebens nur allzu oft geraten kann. Dann nämlich, wenn er wieder einmal bemerken muss, dass es mit seinem Gedächtnis nicht allzu weit her ist. Was aber beileibe nicht bedeutet, dass ich von meinem Erinnerungsvermögen verlangen würde, all das zu speichern, was mir im Leben so zustößt oder widerfährt. Obwohl es in diesem Zusammenhang doch auch Menschen gibt, deren Gehirne jedes Detail, das diesen widerfährt, zu speichern vermögen, sodass sich diejenigen an jeden Tag ihres Lebens haargenau erinnern können: Nicht nur an das Datum oder das Wetter, das an diesem Tag herrschte, sondern darüber hinaus auch an praktisch jede Situation, die sie an diesem durchlebten. Und womöglich spuken ihnen auch noch immer all die Gedanken im Kopf herum, die sie dabei beschäftigten.
Glücklicherweise ist dieses hyperthymestische Syndrom eine absolute Seltenheit. Denn für Menschen mit einem derart zwanghaften Gehirn muss das Leben ein einziger Albtraum sein, der sie bald den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen lässt – unerbittlich gefangen in den Fesseln der Zeit und immerwährend konfrontiert mit ihren Erinnerungen, die sich nahtlos aneinanderreihen wie ein unendlich langer Film, der ihnen die Luft zum Atmen nimmt, und sie an den Sekunden und Minuten ihres eigenen Lebens schließlich ersticken lässt. Woran sich allerdings ermessen lässt, in welch drastischer Art und Weise der Mensch von seinem Gehirn abhängig ist. Das wahrzunehmen fällt den meistens allerdings äußerst schwer, tut das Gehirn doch alles dafür, dass man glaubt, der Herr im Haus zu sein.
Aber trotz allem: Hätte ich die Wahl, würde ich mich natürlich für ein Gehirn entscheiden, das so manches vergisst. Damit meine ich beileibe nicht die Zeiten, in denen es mir schlecht erging und ich gehörig zu strampeln hatte – diese Phasen in meinem Leben möchte ich keinesfalls vergessen, denn sie gehören zu den wichtigen in meinem Leben. Doch all den banalen Kram, den jedes Leben ja zwangsläufig auch so mit sich bringt, sollte mein Wunschhirn besser nicht speichern. Denn nicht selten sind es ja gerade die banalen Angelegenheiten, die einen manchmal nicht loslassen und umtreiben. Doch sollte man in diesem Zusammenhang nicht das Kind mit dem Bade ausschütten wie es der Arzt und Theologe Sir Thomas Browne Mitte des 17. Jahrhundert tat, als er schrieb: „Wissen wird durch Vergessen gewonnen; wenn wir also einen klaren und triftigen Bestand an Wahrheiten erwerben wollen, müssen wir uns von vielem trennen, was in unserem Kopf festsitzt.“
Beim Statement dieses Theologen läuft es mir eiskalt über den Rücken, geht es mir im Leben doch wesentlich darum, mein Dasein möglichst offen und erfüllt zu verbringen. Und da ich auch nicht zwanghaft bin, überlasse ich das Sammeln von klaren und triftigen Wahrheiten lieber den Besserwissern. Ein Lebensziel zu haben, war mir schon immer fremd, denn es schränkt doch nur ein und bringt Scheuklappen mit sich. Und wenn man es trotz allem doch noch erreicht haben sollte, was dann? Ist das Leben dann etwa zu Ende?
Eine gehörige Portion Distanz sich selbst gegenüber halte ich hingegen für einen Vorteil: Denn eine solche Einstellung schärft den Blick, steigert die Erlebnis- und Kontaktfähigkeit und lässt einen die Welt in einem ganz anderen Licht erscheinen. Im Gegensatz dazu ist die allseits grassierende Ichsucht ganz sicher der Holzweg. Sich immer wieder in die Quere zu kommen, ist im Leben mehr als hinderlich. Und über sich selbst zu stolpern, eine wahre Katastrophe.
Darüber hinaus ist es aber auch ratsam, sich nicht auf Gedeih und Verderb seinem eigenen Gehirn anzuvertrauen, denn auch das kann manchmal gehörig schiefgehen. So zum Beispiel, wie es mir gerade eben mit der Kommode und dem Bild unten im Flur ergangen war, von dem ich für Momente tatsächlich vermeinte, es leuchte wie magisch aus sich heraus und besäße physikalische Energie. Dabei war es aber nur das Licht der Lampe im darüber liegenden Stockwerk, das zufälligerweise unten im Flur auf die verdammte Kommode gefallen war, was ich bislang allerdings nicht wahrgenommen hatte, obwohl ich Tausende Male an dieser vorbeigegangen war, wenn das Licht oben brannte – es hatte mich einfach nicht interessiert. Und was nicht von Interesse ist, kann oben im Kopf eben auch nicht registriert werden, was manchmal allerdings eher von Nachteil sein kann, wie ich gerade eben wieder einmal bemerken musste. Deshalb entgeht einem vermutlich weitaus mehr, als man glauben würde, wobei sich Abgründe auftun.
Aber nicht nur von Hause aus, sondern auch ganz individuell hat das Gehirn so seine Macken: Ein jeder kennt diese ihm eigenen Aussetzer, die manchmal auch nur die Folgen eines ganz banalen Blocks sein können, was allerdings gelegentlich zu wirklich grotesken Situationen führen kann: So beispielsweise dann, wenn jemand den Unterschied zwischen konkav und konvex sein Leben lang einfach nicht in den Kopf kriegt, und diesen ein jedes Mal, wenn es zufälligerweise um dieses Thema geht, dazu zwingt, sich erst einmal heimlich seine Eselsbrücke vorzusagen, um dem Gespräch ohne große Fragen weiter folgen zu können: Der Bauch vom Rex, ist konvex. Bei mir ist es jede Art von Primitivgenealogie, die meine Neuronen sofort ins Schleudern bringt. Denn noch heute weiß ich nicht auf Anhieb zwischen Enkel und Neffe zu unterscheiden. Und da ich für dieses läppische Problem leider immer noch keine Eselsbrücke habe, frage ich besser nach und entschuldige mich vorsichtshalber für meine Macke.
Völlig übermüdet schenke ich mir ein Glas Whisky ein, lehne mich im Sessel zurück und lasse das Bild aus der Distanz auf mich wirken. Dabei lässt mich die Frage nicht los, wie ich meine Erinnerungsfähigkeit jetzt richtig auf Vordermann bringen könnte, wenn es da oben im Kopf schon keiner tut. Beiläufig kommt mir auf einmal der Satz von Jean Paul in den Sinn, der behauptete, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden könnten. Leichter gesagt als getan, guter Mann, schießt es mir einem Seufzer gleich durch den Kopf. Denn erst einmal muss man wissen, wie man in seine verdammten Erinnerungsräume hineingelangt, bevor man sich dort umsehen und suchen kann.
Also brauche ich jetzt den passenden Schlüssel. Aber welcher sollte das sein? Irgendeine Stimulanz ist nun vonnöten, die mich der Erinnerung an das Bild einen gehörigen Schritt näherbringt. Eine Art Madeleine wie bei Marcel Proust zum Beispiel – eine Art süßes Gebäck. Doch mit süßem Gebäck hat das mysteriöse Bild, das ich aus der Zeitung herausgerissen hatte, nun wirklich nichts gemein. Spontan halte ich inne und schmunzle, denn vielleicht könnte der Schlüssel zum Ganzen ja auch in einem Geräusch liegen? In dem von zerreißendem Papier nämlich, das ich ja unwillkürlich erzeugte, als ich das Bild aus der Zeitung heraustrennte.
Wild entschlossen greife ich nach einer Zeitung von heute, fische mir für das Experiment eine Doppelseite heraus, und wende mich schließlich bewusst vom Bild ab, an das ich gewitzter Weise nur im Kopf denken will, ohne es dabei anzusehen, wenn ich die Aktion starte. Denn dann habe ich die ganze Sache schon einmal an mein Gehirn delegiert – an einen Ort also, wo die eigentliche Arbeit ja schließlich auch erledigt werden soll. Vorher nehme ich aber noch einen Schluck Whisky. Allerdings nicht, um mich zu beruhigen, sondern nur deshalb, weil mir das Spiel mit dem Hirn mittlerweile einen Heidenspaß zu machen beginnt.
Als ich endlich die eine Zeitungsseite von der anderen trenne und für Momente das Zerreißen von Zeitungspapier im Raum zu hören ist – was für mich als Musiker besonders wichtig ist, da jede Art von Papier beim Auseinanderreißen ein ganz unterschiedliches Geräusch von sich gibt – sehe ich mich mit einem Mal im Wohnzimmer auf meinem Sessel dasitzen, während ich das ominöse Bild vorsichtig aber bestimmt aus der Zeitung herausreiße. Bizarrer Weise verstärkt sich währenddessen nun auch noch das Geräusch des Papiers, wobei ich den Eindruck habe, als zerreiße jemand in meinem Kopf im selben Moment ebenfalls eine Zeitung – synchron mit mir. Es scheint zu funktionieren, bemerke ich animiert, denn endlich tut sich da oben etwas.
Neben mir sehe ich einen Stapel alter Zeitungen auf dem Boden liegen, die ich offenkundig endlich einmal durchforsten will. Aber daraus war wohl wieder einmal nichts geworden, wie ich jetzt weiß. Habe ich doch exakt diesen Zeitungsstapel, den ich da gerade in meiner Vorstellung neben dem Sessel am Boden liegen sehe, gemeinsam mit all dem anderen Altpapier, das sich über die Jahre angesammelt hat, erst heute Abend endlich draußen entsorgt. In ungelesenen Zeitungen vermute ich nämlich immer etwas Besonderes – das ist auch so eine Macke von mir.
Da sehe ich mich also sitzen. Es scheint schon eine ganze Weile her. Es ist früher Nachmittag, würde ich schätzen; draußen herbstelt es schon. Nieselregen. Ich bin allein im Haus und habe mir gerade Mozarts Posthornserenade aufgelegt, während ich mich, leicht angestrengt, darangemacht habe, mich endlich durch die alten Zeitungen zu kämpfen, um mir möglicherweise das eine oder andere Interessante nicht entgehen zu lassen ...
Na also! Begeistert wende ich mich wieder dem Bild zu, ergreife es wie eine Trophäe und wedele es ein wenig kindhaft durch die Luft, als wäre ich Sieger. Doch plötzlich stocke ich, weil ich auf einmal bemerke, dass auf der Rückseite des Bildes Teile eines Texts abgedruckt sind, die dem Bild gewidmet, aber leider nur noch als Fragment vorhanden sind.
Als ich in den Text hineinlese, kippe ich förmlich aus den Latschen: Denn vom Urknall der Fotografie, ist da die Rede – von der ersten Fotografie überhaupt. Aufgenommen im Jahre 1826 von einem gewissen Joseph Nicéphore Nièpce von seinem Arbeitszimmer auf seinen Gutshof Le Gras im französischen Saint-Loup-de-Varennes hinaus. Mehr Fakten finde ich auf Anhieb nicht.
Wie vor den Kopf geschlagen halte ich inne – wie bitte, das Aquarell soll eine Fotografie sein? Die erste der Welt? Verdammt, das wird mir jetzt auf einmal alles viel zu viel. Völlig übermüdet trinke ich meinen Whisky aus, lösche die Schreibtischlampe und gehe gedankenverloren hoch ins Schlafzimmer. Doch trotz all meiner plötzlichen Verwirrung bin ich auch ein wenig stolz darauf, mein Gehirn wieder einmal erfolgreich überlistet zu haben.
ENDE VON TEIL 2