Zur Geschichte und Gegenwart des Menschen / Teil 2
BEWUSSTSEIN
Wir sind krumm und schief in die Welt gestellt.
Immanuel Kant
Hat der Mensch noch eine Chance, die von ihm angezettelte Klimakatastrophe abzuwenden, um sein Überleben auf dem Erdplaneten dauerhaft zu sichern, oder wird er scheitern – das ist gegenwärtig die alles entscheidende Frage?
Doch bevor wir uns dem Heute zuwenden und die mentale Verfasstheit des gegenwärtigen Menschen näher beleuchten, die ja immerhin mitentscheidend dafür ist, ob es ihm gelingen wird, den ungeheuren Herausforderungen, die auf ihn zukommen, mit kühlem Kopf entgegenzutreten, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf den Menschen selbst zu werfen, der von Hause aus lange nicht so perfekt ausgerüstet ist, wie es den Anschein haben mag. So hat die ihm eigene, gleichsam angeborene kognitive Schwäche doch ganz offensichtlich einen nicht geringen Anteil an der Tatsache, dass es ihm im Verlauf seiner Geschichte bis heute nicht gelungen ist, sich den natürlichen Gegebenheiten auf Erden anzupassen, geschweige denn auf Dauer mit Seinesgleichen friedfertig zusammenzuleben, obwohl dieser doch als das intelligenteste Lebewesen auf Erden gilt.
Dennoch aber auch als eines der Gefährlichsten und Unberechenbarsten, das „fast ohnmächtig vor der Aufgabe steht, dem selbstzerstörerischen Trieb zu entfliehen, der es förmlich zwingt, immerfort zu expandieren, zu verbrauchen und die ihn umgebenden Ressourcen bis zur Erschöpfung aufzusaugen.“ (1) So sieht es zumindest der Archäogenetiker Johannes Krause, ein Pionier seines Fachs, der in seinem eindrucksvollen Buch Hybris die evolutionäre Geschichte des Homo sapiens vor allem aufgrund seiner Gene nachzeichnet, und diesen, den Homo sapiens, als Homo hybris brandmarkt: „Waren es zuvor die äußeren Bedingungen, die die Evolution der unzähligen Organismen des Globus prägten, ist es nun der Mensch, eine einzelne Spezies, die die Gestalt der Erde unwiderruflich verändert. Wie bei einer atomaren Kettenreaktion, die mit der Fusion zweier Atome beginnt und zur Freisetzung schlimmstenfalls unkontrollierbarer Kräfte führt, entfaltete das Zusammenspiel zufälliger Genverschiebungen in unseren Vorfahren eine evolutionäre Wucht, die alles, was vor ihr kam, einebnete – und danach nichts mehr entstehen ließ, das sich ihrer Herrschaft entziehen konnte. … Unser Aufstieg zur bestimmenden Spezies ging einher mit der Verdrängung jeder Konkurrenz, das Bestehen unserer Zivilisation ist seit dem Neolithikum untrennbar verbunden damit, sich im Ressourcenkampf gegen andere Lebewesen durchzusetzen, sie zu unterdrücken oder zu vernichten. … Doch letztlich sind wir heute das Produkt einer klassischen und nahezu alle evolutionären Prozesse bestimmenden Jäger-Beute-Beziehung, aus der die Menschheit bis zuletzt als (vorläufiger) Sieger hervorging. Und heute, da diese Herrschaft den gesamten Planeten umgreift, haben wir den letzten Gegner vor uns. Uns selbst.“ (2)
Doch der Kampf des Menschen gegen den Menschen, der im Hinblick auf all die gravierenden und sich häufenden Probleme auf dem Erdplaneten gegenwärtig wie eine Art Selbstzerfleischung anmutet, durchzieht dessen Geschichte in Wahrheit schon von Anfang an und findet im biblischen Mythos von Kain und Abel schon früh seine erschreckende Entsprechung.
DER MENSCH IST DES MENSCHEN FEIND
Aber worin gründet diese gleichsam naturgegebene Feindseligkeit unter den Menschen, die immer wieder zu Mord und Totschlag und Chaos führen? Liegt diese Animosität tatsächlich in den Genen des Menschen als Code begründet – homo homini lupus? Wenn ja, dann aber sicher aus ganz anderen Gründen, als man vermuten würde. Weisen diese doch weniger auf das Verhaltensmuster des Menschen, als vielmehr auf dessen ihm angeborene kognitive Grundausstattung hin. Also auf die vertrackte Art und Weise, wie der Mensch dieser die Dinge wahrnimmt und begreift – nämlich höchst subjektiv.
Insofern sind es zumeist unterschiedliche Weltbilder oder Religionen, die sich der Köpfe der Menschen bemächtigen, und sie zu derartig brutalen Kampfhandlungen anstiften. Sinnlose Gemetzel um der richtigen Weltsicht wegen, die selbstredend auch immer die Frage nach dem Stärkeren und Mächtigeren beinhalteten. Und dennoch macht es immer wieder fassungslos, wenn sich Menschen aus solch fatalen Gründen gegenseitig zu vernichten versuchen, als handele es sich hierbei jeweils um Gegner, die feindlichen Parallelwelten angehörten.
Doch die Menschen leben alle gemeinsam auf demselben Planeten und bewegen sich allesamt in einer für sie prinzipiell identischen Realität – das sollte man wenigstens meinen. Dem aber ist nicht so. Denn jeder Mensch sieht die Realität offenbar mit ganz anderen Augen, woraus sich nicht selten gesellschaftliche Konflikte ergeben, die sich - je nach der Eigenart, die Dinge wahrzunehmen - als geistig-antagonistische Strömungen und Gegenströmungen formieren, und unter Umständen sogar zu Bürgerkriegen führen können. So kommt es also schon in einer allen Menschen gemeinsamen Epoche, die ja durch eine allen gemeinsamen Weltsicht definiert ist, vor, dass sich urplötzlich völlig neue Welt- und Gesellschaftsbilder entwickeln - sei es aus religiösen oder kulturellen oder naturwissenschaftlichen oder sozialutopischen Gründen, die - schneller als man denkt - zu gesellschaftlichen Verwerfungen und schließlich zu Umstürzen führen können: Allen Weltbildern der menschlichen Geschichte wohnt folglich ein rigides ideologisches Denkmuster inne, das von sich behauptet, die Ultima Ratio zu sein, und deren Gegenteil nicht gedacht werden dürfe. Insoweit bergen derart starre Ansichten über die Beschaffenheit der Welt das Kanonenfeuer für den Kampf um die richtige Weltordnung bereits schon in sich. Der Glaube versetzt eben nicht nur Berge, er stiftet auch Krieg.
Dieses die Menschheit entzweiende Phänomen offenbart auf drastische Art und Weise, wie schwer es dem Menschen zu fallen scheint, die Wirklichkeit der natürlichen Gegebenheiten des Lebens einfach hinzunehmen und sich ihnen auf ganz normale Art und Weise anzupassen. Immer wieder versucht er aufs Neue zu verstehen, was die Welt wirklich zusammenhält. Doch nach der Ordnung der Dinge sucht er noch heute vergebens, während ihm sein Leben unter der Hand mehr und mehr in Unordnung gerät.
Wenn man bedenkt, wie viele Weltbilder sich der Mensch in seiner noch gar nicht so langen Geschichte schon ausgedacht hat, ausgehend von frühgeschichtlichen Vorstellungen einer beseelten Natur, in der Geister ihr Unwesen treiben, über eine von Göttern belebte und durchwehte Welt, bis hin zur Überzeugung eines allmächtigen jenseitigen Gottes, dessen ewiges Reich der Himmel wäre, nach dem der Mensch auf Erden beizeiten streben sollte, wolle er nicht in die Hölle kommen, kann einem schwarz vor Augen werden.
Und auch heutzutage leben wir wieder in hochbrisanten Zeiten, denn das gegenwärtig herrschende Bild von der Welt, das eine rein technologisch dominierte, völlig entzauberte und geistlose Wirklichkeit propagiert, scheint nun auch schon wieder ins Schwanken zu geraten. Denn der Mensch hat die Flucht nach vorne angetreten und glaubt in der virtuellen Realität endlich die Lösung all seiner Probleme gefunden zu haben, mit der er alles Umdeuten und Neudenken endlich hinter sich habe. Doch auch diese Wirklichkeit wird ihn aus dem gegenwärtigen Chaos nicht retten. Im Gegenteil, macht ihn diese ihm stabil erscheinende künstliche Realität doch anfälliger und verwirrter denn je – die Dinge scheinen ihm endgültig zu entgleiten.
DIE REALITÄT BLEIBT EIN GEHEIMNIS
Die tiefreichende Unsicherheit des Menschen der Realität gegenüber, ist grundsätzlicher Natur und liegt – so paradox das auch klingen mag – in der Tatsache begründet, dass dieser Bewusstsein hat. Und zwar das höchst entwickelte aller Lebewesen auf Erden. Das heißt aber noch lange nicht, dass dieses Bewusstsein ein einziger Segen wäre, weil es den Menschen in die Lage versetzen würde, die Wirklichkeit so wahrzunehmen, wie sie ist. Ganz im Gegenteil, könnte man sagen: Denn im Grunde zwingt ihn dieses, in Allem und Jedem nach Sinn zu suchen, und – wenn irgend möglich – mit Bedeutung zu versehen. Bedeutungen, die allerdings einzig der Sinnbedürftigkeit des Menschen entspringen, mit den Dingen selbst jedoch nicht unbedingt immer etwas zu tun haben müssen. Aus diesem Grund lebt der Mensch gleichsam in einer Welt, die im Wesentlichen seinen Bedeutungszuschreibungen entspricht – umstellt von Dingen, die ihm wie Erscheinungen seiner Sinnhaftigkeit vorkommen, weshalb die Qualität seines kognitiven Erlebens auch als phänomenales Bewusstsein beschrieben wird.
Insofern liegt die primäre Aufgabe des menschlichen Bewusstseins nicht etwa darin, die Neugier und den Wissensdrang des Menschen anzustacheln, sondern vielmehr in der Tatsache begründet, ihm im Leben Stabilität und Orientierung zu verleihen, damit er handlungsfähig bleibt. Deshalb lässt das Bewusstsein den Menschen die Welt auch nur aus seiner eigenen Perspektive erfahren, und gibt ihm das Gefühl, als Subjekt im Zentrum der Dinge zu stehen, das diese wie Objekte betrachtet. So kommt es dem Bewusstsein einzig auf den Menschen an, die Realität der Welt muss dahinter zurücktreten: Seien es Sinnesempfindungen von Farben und Tönen, Körperempfindungen wie Schmerz, Emotionen, Stimmungen, Wünsche, Triebe oder Bedürfnisse – alles im Bewusstsein spiegelt dem Menschen lediglich dessen subjektives Empfinden wider – ein Phänomen, das in der Hirnforschung Qualia genannt wird.
Das ist dein Körper und deine Welt. Und das sind deine Gedanken, deine Vorstellungen und Überzeugungen und Wünsche, lässt das Bewusstsein den Menschen wissen. Und dies alles wie auf einer nutzerfreundlichen Bedieneroberfläche (– wer die Wahl hat, hat die Qual). So beschreibt es zumindest der amerikanische Kognitionswissenschaftler Daniel Dennett, der das menschliche Bewusstsein wie manch anderer seiner Kollegen für eine perfekte Illusion hält.
So hat das Bewusstsein des Menschen offenbar auch seine Tücken: Denn so außergewöhnlich es auch sein mag, eine solch exorbitante geistige Kapazität zu besitzen, die es diesem ermöglicht, sich unter mannigfachen Alternativen, die ihm zur Disposition stehen, frei entscheiden zu können – ein ungeheurer Freiheitsgrad, den vermutlich sonst kein anderes Lebewesen auf Erden kennen dürfte, so engt es den Menschen in seinem Erleben doch auch in beträchtlichem Maße ein, ohne dass dieser auch nur einen Funken davon mitbekommen würde. Denn wenn dieser sich auch wie ein Alleskönner vorkommt, sein eigenes Bewusstsein infrage zu stellen, kommt ihm nachvollziehbarer Weise nun wirklich nicht in den Sinn.
Doch in einer gewissen Art und Weise spielt das Bewusstsein mit dem Menschen ein fatales Spiel. Denn es lässt ihn die Dinge der Welt nur durch seine eigene, höchstsubjektive Brille erfahren, und vermittelt ihm dabei auch noch das Gefühl, sich im Zentrum des Geschehens zu wähnen – so als drehe sich die Welt einzig um ihn. Mit dieser für ihn charakteristischen Ego-Perspektive neigt er folglich auch dazu, in erster Linie nur an sich selbst zu denken, was auch dazu führt, sein ihm eigenes Schicksal nachgerade instinktiv mit dem von anderen Menschen zu vergleichen bzw. sich an diesen zu messen. Eine mentale Eigenart, die wohl auch zu allem Neid und aller Missgunst unter den Menschen führt, und gegenwärtig auf den Plattformen der Sozialen Medien zum absoluten Hype geworden ist: So-wie-der-oder-die-ist-will-ich-auch-sein.
Doch neben der habituellen Einschränkung seiner Wahrnehmungsfähigkeit ergibt sich für den Menschen noch ein weiteres, weitaus gravierenderes Problem, das ihm allerdings nie bewusst werden darf, weil dies die Grundfesten seiner Existenz erschüttern würde: So ist es nicht nur seine höchst subjektive Perspektive auf die Welt, die ihm den wahren Charakter der Realität vorenthält, sondern bereits die Bilder von der Welt selbst, die er allerdings ganz selbstverständlich für die der Wirklichkeit nimmt, die ihn umgibt.
Dies hat einen einfachen, wenn auch folgenschweren Grund: Denn das menschliche Gehirn (wie das vieler anderer Lebewesen auf Erden auch), hat keinen direkten Kontakt zum Außenraum, da es völlig isoliert unter dem Schädelknochen des Menschen verborgen liegt. Demzufolge ist es auf Gedeih und Verderb auf die peripheren Sinnesorgane des Körpers angewiesen, die jeden, wie auch immer gearteten Sinnesreiz den sie registrieren, unverzüglich in elektromagnetische Impulse umwandeln und diese erst dann an das Gehirn weitersenden. Folglich sieht sich dieses auch dazu gezwungen, sich aus gleichsam rein abstrakt-elektrischen Strömen ein Bild von der Welt zu machen, das - absolut virtuell - letztlich nur auf Vermutungen basiert, was draußen gerade so vor sich geht.
„Wie kommt es, dass wir die Welt wahrnehmen?" fragt der deutsche Neurophysiologe und Hirnforscher Wolf Singer: „Auf die Netzhaut des Auges prasseln Reize verschiedenster Wellenlängen ein. Das Gehirn ist in der Lage, diese Reize zu ordnen. Es fasst zusammen, was zusammengehört, und trennt, was eben nicht zusammengehört. Deshalb gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was wir uns vorstellen, was dabei in unserem Kopf vorgeht, und dem, was tatsächlich passiert. Die Vorstellung ist, dass es irgendwo im Hirn eine Zentrale, eine autonome Instanz geben muss, die Entscheidungen trifft. … Wir können nur erkennen, was die kognitiven Leistungen unserer Gehirne zu erfassen erlauben", so Singer weiter. „Das menschliche Hirn ist in einem evolutionären Prozess entstanden. Es ist auf den winzigen Ausschnitt der Welt geeicht, den wir wahrnehmen. "Es ist nicht darauf ausgelegt, absolute Wahrheiten zu erkennen, sondern es soll uns ermöglichen, zu überleben und uns fortzupflanzen." (3)
DER MENSCH LEBT IN SEINER EIGENEN WELT
Insofern ist es beileibe nicht übertrieben, wenn man behauptet, der Mensch lebe in seiner eigenen Welt, da er alles immer nur aus seinem eigenen Realität erlebt – angewiesen auf diejenigen Bilder von der Welt, die sein Gehirn – exakt auf seine Person zugeschnitten – auf virtuelle Art und Weise ausschließlich für ihn erschafft, damit er sich als Individuum empfinden und handlungsfähig bleiben kann. „Bewusstsein ist im Grunde wie ein Film. Wir glauben, wir sehen die Welt so, wie sie ist, als lückenlose Abfolge nämlich – aber das stimmt nicht“, so Michael Herzog von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne. Denn in Wahrheit könne „das Bewusstsein Veränderungen nicht augenblicklich feststellen, sondern erst dann, wenn sie stattgefunden“ hätten. „Erst wenn die unbewusste Verarbeitung abgeschlossen ist, poppt die bewusste Erfahrung von all dem, was vor uns liegt, mit einem Mal auf.“ So würde das Gehirn zwar alle Informationen kontinuierlich verarbeiten, doch diese könnten vom Menschen nur in Ausschnitten erfahren werden“, so Herzog. „Wenn wir mit dem Rad fahren, geschieht dies größtenteils unbewusst. Es ist gleichsam der Zombie in uns, der unser Fahrrad antreibt – ein unbewusster Zombie mit einer hervorragenden räumlichen und zeitlichen Auflösung. Die Wahrnehmung unserer Umgebung wird laufend aktualisiert, unser bewusstes Selbst aber arbeitet nur mit diesen Aktualisierungen.“ (4)
Folglich funktioniert das menschliche Bewusstsein bei Weitem nicht so, wie es dem Menschen den Anschein gibt: So operiert es viel langsamer als das die unbewussten zerebralen Prozesse tun, und beschäftigt sich höchstens mit drei bis vier Faktoren gleichzeitig, während die unbewussten neuronalen Funktionen Tausende beteiligter Größen simultan analysieren und verarbeiten.
Darüber hinaus stellt das Bewusstsein des Menschen auch keinen kontinuierlich dahinfließenden Prozess dar, wie dieser glaubt, arbeitet dieses doch vielmehr in sprunghaften Etappen, die es dem Menschen lediglich erlauben, aus dem gerade Erlebten vor allem grobschlächtige Schlüsse zu ziehen. Und dies zumeist in kausaler Manier, als ginge das Eine immer zwingend aus dem Anderen hervor. Und richtig: Offenbar braucht der Mensch auch immer irgendeine Art von Narration, wenn er sich dem Leben ausgesetzt fühlt und wieder einmal nicht weiß, woran er ist. Und exakt dieses Grundbedürfnis nach kausaler Welterklärung ist es auch, das ihn schließlich zur geistigen Konstruktion seiner großen Mythen und Kosmologien veranlasste, die letztlich alle nur eines zum Inhalt hatten: Den nämlich, die Welt, deren Struktur, Geschichte und Sinn so zu beschreiben, dass sie zu ihm, dem Menschen passt.
So lieferten all diese Welterklärungsmodelle natürlich auch die jeweils erhellenden oder aber alles verdunkelnden Antworten auf die den Menschen tief verunsichernde Fragen, die ihn im Verlauf seiner Geschichte schon immer mächtig umtrieb:
Woher komme ich?
Wer bin ich?
Und wohin gehe ich?
Der Mensch muss sich in der Welt verorten. Er kann nicht einfach in ihr sein, wie das Tier. Auch dies liegt in der Natur seines Bewusstseins, das ohne einen übergeordneten Sinn offenbar nicht auskommt.
Heutzutage aber, wo vor allem auch in den Köpfen der Menschen nur noch Chaos zu herrschen scheint, vermögen diese offenkundig auch von nichts Anderem mehr zu erzählen, als von ihrer eigenen geistigen Verwirrtheit. Deshalb sind von den großen Narrationen der menschlichen Geistesgeschichte mittlerweile auch nur noch asthmatische und semipolitische Tagesparolen übriggeblieben, mithilfe derer der staatsleitende Kader verzweifelt versucht, den Menschen wenigstens für den kommenden Tag noch irgendeine fadenscheinige Story zu liefern, die diese zum besinnungslosen Durchhalten animieren soll. Doch angesichts dieser nihilistischen Not, der Sinnlosigkeit all seines Treibens hilflos ausgesetzt zu sein, bleibt Vielen dieser Tage offensichtlich nichts anderes mehr übrig, als – ganz allein auf sich gestellt und von Gott und Welt verlassen – sich selber irgendwelche Erklärungskrücken zusammenzuzimmern, die groteskerweise zumeist als krude Verschwörungserzählung um die Ecke kommen, allenthalben ins gesellschaftliche Kraut schießen, und letztlich zu nichts anderem taugen, als dem ohnehin schon angeschlagenen sozialen Zusammenhalt endgültig den Garaus zu machen.
DAS BEWUSSTSEIN – EIN FILTERPROZESS
In diesem Zusammenhang ist es jedoch überaus interessant, noch einmal zu den Tücken des menschlichen Bewusstseins zurückzukehren: Denn dessen Versuch, dem Menschen nur das zu bieten, was er braucht, umorientiert, stabil und handlungsfähig zu bleiben, hat auch seine deutlichen, mitunter gefährlichen Grenzen. Denn auch mit der Verarbeitung des gerade Wahrgenommenen, hat das menschliche Gehirn offenbar so seine Probleme. So schreibt dieses den Dingen ihre jeweilige, vorprogrammierte Bedeutung zu, vergleicht deren Wertigkeiten und Bedeutsamkeiten untereinander und ordnet und gewichtet sie schließlich allein auf diejenige Art und Weise, dass sie zur Lebenssituation und Weltsicht des einzelnen Menschen so gut wie möglich passen. Die bewussten Gedanken, mit denen dieser währenddessen das just Erlebte zu erklären und zu verstehen versucht, sind deshalb zunächst nichts anderes als zögerliche Versuche, sich Zug um Zug der Realität des Gegebenen anzunähern, wobei das auf vorschnelle Sinnstiftung fixierte Bewusstsein den Menschen immer wieder dazu verleitet, der dynamisch-komplexen Wirklichkeit vorschnell unausgegorene Vermutungen überzustülpen, die sich unter fatalen Bedingungen rasch zu rigiden Vorstellungen oder Ansichten verfestigen können. Eine sattsam bekannte Tatsache, die die Schwäche des menschlichen Urteilvermögens schonungslos offenlegt, und diese angesichts der wieder einmal überall aufblühenden Verschwörungstheorien erschreckend zu Tage treten lässt.
Dass bei derartigen Prozessen vor allem Gefühle eine entscheidende Rolle spielen, ergibt sich gleichsam von selbst. Denn mit jeder zugeordneten Bedeutung einer Sache ist natürlich gleichsam automatisch auch das entsprechende Gefühl verbunden. Wer je schon einmal von einem Hund gebissen wurde, weiß das: Bislang war man einfach zu zutraulich. Aber ab jetzt wird ein Bogen um den Hund gemacht.
Und so wie die Frühmenschen etwaige Gefahrensituationen und andere Dinge und Menschen zuallererst durch Gefühle beurteilten, so ist auch heute noch die Welterfahrung jedes Einzelnen vor allem von Gefühlen geprägt. Und es sind diese Gefühle, die ihn wissen lassen, was er von den Dingen halten soll. Ein immer wieder bestärktes Gefühl überprüft nicht, es glaubt. Gänzlich unabhängig von jeglicher Wissenschaft, die möglicherweise das Gegenteil behauptet.
Des Menschen Verhältnis zur Natur ist jedoch ein ganz besonderes, denn es ist im Wesentlichen allein von Gefühlen beherrscht. Das liegt an der Natur und nicht am Menschen, da deren magische Vielfalt und das Geheimnis ihrer schillernden Existenz den Menschen unwillkürlich auf die basalen Funktionen seines Bewusstseins zurückwirft. Und diese beruhen nun einmal auf Gefühlen, die – evolutionsbiologisch betrachtet – als Ursprung und Quelle des Bewusstseins gelten müssen: „Die Macht der Gefühle ist darauf zurückzuführen, dass sie im bewussten Geist vorhanden sind. Wir fühlen, weil der Geist etwas Bewusstes ist, und wir sind bewusst, weil es Gefühle gibt. Ich spiele nicht mit Worten: ich stelle nur die scheinbar paradoxen, aber sehr realen Tatsachen fest. Gefühle waren und sind der Anfang eines Abenteuers namens Bewusstsein“, so der portugiesische Neurowissenschaftler António Rosa Damásio. (5)
Aber warum? Nun, das ist relativ einfach nachzuvollziehen. Denn zuallererst muss ein Lebewesen eine Empfindung von sich selbst erlangen, wenn es sich in der Welt denn frei bewegen will. Diese Selbsteinschätzung ist natürlich einzig und allein auf dessen Körper fokussiert, da dieser dem Menschen ja überhaupt erst zu seiner Existenz verhilft. Interessanterweise waren bereits die ersten Einzeller mit einer Art biologischen Reaktionsvermögens ausgestattet, das es ihnen erlaubte, sensibel auf Umweltveränderungen zu reagieren, um ihr inneres Milieu – durch Fressen, Ausweichen, Abwehr oder Flucht – möglichst in gesunder Balance zur Umwelt zu halten. Aus diesen sensiblen Zellen entwickelten sich in der Folge der Jahrmillionen dann allmählich sogenannte interozeptive Nervensysteme, die das Gehirn über den inneren Zustand des Körpers und seiner Organe durch entsprechende Signale in Kenntnis setzten. Signale, die in den Neurowissenschaften als Emotionen bezeichnet werden und als körperliche Reaktionen auf einen äußeren Reiz hin verstanden werden.
Dann aber kam es in der evolutionären Entwicklung des menschlichen Gehirns zu einer bahnbrechenden Fortentwicklung: Denn mit einem Mal war es diesem möglich, die Emotionen aus dem Körperinneren mithilfe seiner neu entstandenen Hirnrinde gleichsam von oben zu betrachten, sodass diese Signale für den Menschen jetzt in Form von Gefühlen bewusst erlebbar wurden – Gefühle wie Hunger, Lust, Angst, Glück oder Trauer zum Beispiel, die diesem entscheidende Überlebensvorteile brachten und seiner Existenz völlig neue Dimensionen eröffnete: Angst zu fühlen, mahnt zur Vorsicht und macht wachsam gegenüber Gefahren. Und das Gefühl von Ekel veranlasst zu Hygiene und warnt vor verdorbener Nahrung – ganz einfach. So lautet die grundlegende Formel der menschlichen Existenz: Ich fühle, also bin ich!
DIE MACHT DER GEFÜHLE
In diesem Sinne liegt die Basis allen Bewusstseins in den Körperempfindungen begründet. Denn ohne dieselben würde das Bewusstsein ohne doppelten Boden arbeiten und seinen Besitzer dem bloßen Zufall überlassen, was dieser allerdings nicht lange überleben dürfte. Das gilt für Tier und Mensch: So vermag auch eine Amsel Hunger oder Schmerz zu verspüren. Doch über solcherart Empfindung auch zu reflektieren und diese für sich zur Disposition stellen zu können, ist dieser versagt. Diese geistige Leistung gelingt nur dem Menschen, da er seine Körperempfindungen – wie von übergeordneter Warte aus – in ihrer bestimmten Qualität als bewusste Gefühle erlebt und diese solcherart auch dementsprechend einzuschätzen und abzuwägen vermag. Hunger bedeutet jetzt auf einmal nicht mehr: Mal sehen was ich erwische! Denn jetzt heißt es: Ich habe Lust auf Sushi!
Insofern erklärt sich nun auch, warum das Bewusstsein dem Menschen die Realität lediglich auf rein subjektive Art und Weise präsentiert. Geht es bei dessen Funktionen doch wesentlich darum, den Menschen im physischen wie psychischen Sinne möglichst im Ausgleich mit sich und seiner Umwelt zu halten. Und das mit dem Gefühl, eine eigenständige Person zu sein, die sich verhalten kann, wie ihr es als richtig erscheint. Gefühle haben eine eigentümliche Macht. Denn sie sind nicht anfechtbar, gerade weil sie paradoxerweise den Charakter des Höchstpersönlichen in sich tragen: So hat auch die Angst viele Gesichter – wahrscheinlich so viele, wie es Menschen gibt. Und dies gilt natürlich auch für deren jeweiliges Weltbild, schließlich sieht oder empfindet jeder Mensch die Dinge auf höchst individuelle und unterschiedliche Art und Weise – also bei Weitem nicht so, wie jeder andere auch. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Mensch lebt in der ihm eigenen Realität, so erschreckend das auch klingen mag.
Demgemäß liegt das Grundprinzip des bewussten Erlebens im Phänomen der höchstsubjektiven Wahrnehmung der Selbstwahrnehmung begründet. Diese geistige Superposition befähigt den Menschen dazu, bewusste Gefühle von sich und seinem Körper zu empfinden und sich dementsprechend verhalten zu können – Körpergefühle sind Teil der menschlichen Identität. Ohne diese Innenwelt wäre es ihm kaum möglich, einen sinnvollen und fokussierten Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Gefühle sind das A und O. So der so!
Erst recht dann, wenn wir des Menschen Verhältnis zur Natur betrachten, die diesen immer wieder auf den Grund seiner basalen Gefühle zurückzuwerfen scheint –sprachlos deren fantastischen Landschaften gegenüber. Und ergriffen von der kosmischen Unendlichkeit, wenn er des Nachts in den Himmel blickt, so als löse er sich in seinen Gefühlen auf. Doch dieses Überwältigungsgefühl im Bauch hält nicht jedermann lange aus: Vor allem dann nicht, wenn er sich dabei auf einmal klein und unbedeutend und einsam vorkommt. Für viele ein scheußliches Gefühl, sich auf einmal so null und nichtig fühlen zu müssen, wobei solche Gefühle beim Blick in den Nachthimmel doch ganz natürlich vom Menschen Besitz ergreifen. So als hätte er noch eine Ahnung davon, dass der Kosmos seine wahre Heimat ist, da er ja selbst aus nichts als Sternenstaub besteht.
Etliche aber versuchen sich gegen diese Gefühle zur Wehr zu setzen, schieben sie von sich weg und projizieren diese in die Natur zurück. Aber auf diese Art und Weise verkommt die Natur zu deren Spiegelbild, da sie in ihr jetzt vor allem ihre eigenen klammheimlichen Ängste und unbestimmbaren Sehnsüchte wirken sehen. Es ist diese fatale kognitive Falle, in die diejenige tappen, die sich in der Folge auch noch daranmachen, sich wieder einmal eine Religion in ihrem verwirrten Kopf zurechtzubasteln.
Doch in einem vermag der Mensch dem Kosmos partout nicht auszuweichen. Und das liegt fatalerweise wiederum nur allein an seinem Bewusstsein. Dem mit diesem weiß er auch, dass er sterben muss. Und an dieser Gewissheit hat er zu kauen - sein Leben lang.
Nun aber meldet sich die Natur mit einem Mal von allein zurück, und zeigt dem Menschen ihre andere, ihre lebensfeindliche Seite – all ihre Herrlichkeit scheint sie urplötzlich verloren zu haben. Denn jetzt macht ihm die Natur existentielle Angst und scheint nicht mehr zu bändigen, obwohl der Mensch doch dachte, sie stünde ihm für immer zur Disposition. Ihm, der alles immer nur durch die eigene Brille sieht und kein Auge dafür hat, deren wahres Wirken zu erkennen. Wie sollte er da je einen wirklichen Begriff vom Natürlichen erlangen können. Sein ihm wesenhaft gegebenes Denken, das zumeist nur mechanisch und kausal operiert, hindert ihn daran. In der Natur aber gibt es keine Ursache oder Wirkung. Alles in ihr ist Wirkung und Ursache zugleich. Doch der Mensch kann offenbar nicht anders, als die Dinge wie eine Apparatur zu begreifen: Und wenn die erhöhten CO2-Emissionen seiner Zivilisation zur Erderwärmung geführt haben, dann heißt es jetzt eben weniger CO2, dann wird sich die leidige Sache schon von allein erledigen – so denkt er eben.
„Wir sehen Menschen Häuser bauen und zerstören und werden zu der Frage geleitet: ‚Wie lange steht das Haus schon?‘ Aber wie kommt man darauf, dies von einem Berg z.B. zu fragen?“ (6) Treffender als Wittgenstein kann man das eingeschränkte Bewusstseinsvermögen des Menschen im Hinblick auf die Natur nicht beschreiben, hat dieser die Natur bis heute doch immer nur wie eine selbstverständliche Gegebenheit und Konstante seines Lebens betrachtet.
„Seinsgewissheit“ nennt der Philosoph Edmund Husserl diese für den Menschen so charakteristische Haltung: „Die Welt ist uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekten vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewissheit-leben ... und seiner selbst als in der Welt lebend ‚bewusst‘ (zu) sein.“ (7) Doch diese Art Bewusstsein gälte es zu überwinden, meint der indische Historiker Dipesh Chakrabarty in seinem Buch Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter und fordert den Menschen aufgrund des Klimawandels dazu auf, sein Bewusstsein zu erweitern und ein planetarisches zu erlangen. Denn nur ein solches würde es ihm ermöglichen, nicht nur an sein eigenes Leben, sondern vor allem auch an das seines Heimatplaneten zu denken. Eine wahrhaft kühne Forderung, die allerdings mehr oder weniger dem Versuch am untauglichen Objekt gleicht. Oder schlimmer noch, nämlich dem Todesurteil für den Menschen, da dieser aus besagten Gründen zu solch einem Denken von Hause aus gar nicht fähig ist.
So wird gegenwärtig viel darüber gerätselt, wie oder ob der Mensch der drohenden Klimakatastrophe noch entgegentreten könne. Doch leider wird dabei, wie so oft, das konkrete Wesen des Menschen nicht mitbedacht. Da waren die alten Denker schon einmal wesentlich weiter. Aber was soll’s, die liest ja eh keiner mehr.
(1) Johannes Krause und Thomas Trappe: Hybris. Propyläen Verlag. Berlin, 2021. S. 8
(2) ebd. SS. 285 und 288
(3) www.magazin.unimainz.de/4827_DEU_HTML.php
(4) www.derstandard.at/story/2000119800526/wir-erfahren-die-welt-als-serie-k...
(5) Antonio Damasio
Wie wir denken, wie wir fühlen. Die Ursprünge unseres Bewusstseins
Carl Hanser Verlag, München, 2021. S. 101
(6) Ludwig Wittgenstein
Über Gewißheit. Werkausgabe
Bd. 8. Suhrkamp Verlag, Fankfurt/M, 1989. S. 136
(7) Zitiert nach: Dipesh Chakrabarty
Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2022. S. 304