VOM ENDE EINER ILLUSION
Teil 1
Die Lage, in der sich die globalisierte Welt in diesen Tagen wiederfindet, muss ihr wie ein Albtraum vorkommen – mit einem Mal ist nichts mehr wie zuvor: Erst COVID-19 und nun, nach praktisch 80 Jahren, wieder Krieg mitten in Europa, was noch vor Wochen kaum jemand für möglich gehalten hatte.
Bezeichnenderweise ist es vor allem die weltweit vernetzte Ökonomie, die jetzt in die Knie geht, hatte diese, die ihren Siegeszug rund um den Globus längst schon für errungen wähnte, die Rechnung doch ohne den Wirt gemacht. Und dieser ist letzten Endes nun einmal die Politik, obwohl diese für die kapitalistische Ökonomie von jeher relativ belanglos gewesen war. Aus diesem Grund hatte sie zwischen Demokratie und Diktatur auch nie einen großen Unterschied gemacht, wenn ihr lukrative Geschäfte winkten.
Nun aber ist ihr diese Ignoranz zum Verhängnis geworden, obwohl die auf maximalen Gewinn setzende Ökonomie stets alles daranzusetzen versuchte, sich wie ein Chamäleon den jeweiligen politischen Gegebenheiten eines Landes anzupassen. Das gewissenlose und unterwürfige Verhalten von Apple im diktatorischen China mag hierfür ein beredtes Beispiel sein.
Die Geschichte geht so: Vor einigen Jahren war das Megaunternehmen in den Focus des dortigen Regimes geraten: Ihm wurde vorgeworfen, der ansässigen Wirtschaft nicht ausreichend Hilfestellung zu leisten, weswegen diesem unverhohlen mit Konsequenzen gedroht wurde. Um im Geschäft zu bleiben, gab Tim Cook, Apples CEO, klein bei und schloss im Jahre 2016 mit der chinesischen Regierung einen geheimen Deal. Dieser besagte, dass das Unternehmen von Regulierungen des chinesischen Parteikaders verschont bleiben würde, wenn es im Gegenzug 275 Milliarden US-Dollar im Land investieren würde. Mit dieser Summe sollte insbesondere Chinas Tech-Standort weiter gestärkt werden, will das Land doch auch in dieser Hinsicht bald die Welt dominieren. Deshalb verpflichtete sich Apple dazu, gemeinsam mit chinesischen Herstellern „die fortschrittlichsten Herstellungsverfahren“ zu entwickeln, und „hochkarätige chinesische Talente“ zu fördern. Zudem musste sich Apple auch dazu bereit erklären, den rigorosen chinesischen Gesetzen und Regulierungen, die bekanntlich keinerlei Rücksicht auf Datenschutz und Privatsphäre nehmen, künftig widerspruchslos Folge zu leisten. Und wohlgemerkt: diese Willfährigkeit zahlte sich selbstredend aus, denn mittlerweile ist China für Apple einer der größten Absatzmärkte auf der Welt.
Dies alles bekümmerte den reichen Westen jedoch nicht sonderlich. Solange in den eigenen Sphären der Laden brummte, kniff man beide Augen zu, lebte man selbst doch mittlerweile im blindwütigen Konsumrausch und konnte sich alles kaufen, was das Herz so begehrte - es war völlig egal, woher die Ware kam. Und selbstverständlich ließ man nur in jenen Ländern produzieren, in denen die Löhne am billigsten waren, schließlich wollte man sich angesichts der weltweiten Konkurrenz nicht lumpen lassen: So lässt Deutschland seine Medikamente beispielsweise in Indien oder China produzieren. In Form von Generika-Medikamenten, deren Patentrechte abgelaufen sind, und nun in gleicher Zusammensetzung und Wirkung von anderen Herstellern kopiert werden können. In Deutschland machten Generika im Jahre 2018 übrigens knapp 80 Prozent aller verkauften Medikamente aus. Damit hat sich das Land in hochriskanten Zeiten allerdings in eine absolute, in Wahrheit aber völlig unnötige Abhängigkeit von China begeben, aus der einzig die internationale Pharmaindustrie Kapital zu schlagen weiß. Doch jetzt blockieren die globalen Lieferketten und in Deutschland herrscht akuter Medikamentenmangel - seit Monaten sind rund 300 Präparate nicht mehr lieferbar, darunter auch lebensrettende Medikamente. Aber auch die deutsche Automobilbranche ist mittlerweile ohne China nicht mehr denkbar, denn ohne dessen riesigen Absatzmarkt wäre diese wahrscheinlich schon längst nicht mehr am Leben und folglich bankrott. Also profitiert Deutschland hier noch von der chinesischen Weltmacht und hält sich nach wie vor tunlichst zurück.
Doch diese mehr als fahrlässigen Abhängigkeiten, die von einer wild gewordenen Ökonomie angezettelt worden waren, wurden durch eine neue westliche Außenpolitik nach dem Ende des kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre sogar noch befeuert. Denn nun setzte man auf einmal auf die Ökonomie und glaubte, mit der versöhnenden Kraft von gegenseitigen wirtschaftlichen Geschäften und Verträgen autoritäre oder diktatorische Staaten besänftigen zu können. Wandel durch Handel lautete die Devise. Kurzum: Die Politik sprang spontan auf den Zug auf und zog von nun an mit der globalen Ökonomie am gleichen Strang. Eine verfängliche Idee, denn jetzt war mit der Entspannungspolitik sogar noch Geld zu verdienen. Und das machte die Politik offenbar blind. Oder sie drückte ein Auge zu, wenn es galt, ihren Binnenmarkt in Schwung zu halten. Man habe die Probleme beim letzten Treffen selbstverständlich angesprochen: In China die Uiguren und in Russland die Meinungsfreiheit, ließ sie eilfertig verbreiten und ging wortlos zum nächsten Deal über.
Kein Wunder also, dass der Handel florierte. Und mit Russland war Deutschland besonders gut im Geschäft. Denn man profitierte sogar von dessen Kohle, Öl und Gas, weil man das alles dank russischer Großzügigkeit zu einem Vorzugspreis importieren durfte. Jetzt könne man mit billiger Energie auch billiger produzieren, ließ die Politik die Leute wissen – welch volkswirtschaftliche Binse! Doch der Wohlstand schien gesichert. Wer also wollte sich da schon wegen einer globalisierten Wirtschaft echauffieren oder gar beklagen. T-Shirt blieb T-Shirt, auch wenn es aus Bangladesch kam.
Zusammengehalten wurde dieser ganze Irrsinn von einem global-ausgetüftelten Lieferkettensystem, das es möglich zu machen schien, Waren an jedem x-beliebige Ort der Erde zu produzieren und diese dann zu jedem x-beliebige Ort der Erde zu transportieren und dort auszuliefern – die Gewinnsucht bildete den Kompass, der Profit bestimmte die Moral. Die Hybris eines solchen Unterfangens zeigte sich mit dem Schicksal der Ever Given allerdings schon im letzten Jahr:
Einem 400 Meter langen Containerschiff der Evergreen Line, das am 23. März 2021 im Suezkanal bei starkem Wind an einer Uferböschung des Kanals auf Grund lief, sich schräg stellte und dadurch die Schifffahrtsrinne des Kanals sechs Tage lang blockierte. Hunderte Schiffe stauten sich in beiden Fahrtrichtungen. Damit war das Nadelöhr des globalen Schiffhandels blockiert, wobei die Folgen dieser Havarie noch eine Zeit lang weltweit zu spüren waren. Damals war es wohl das erste Mal, dass der Begriff der Lieferkette weltweit ins Bewusstsein der Konsumenten rückte.
Doch mit dem mörderischen Überfall Russlands auf die Ukraine ist nun die Hölle losgebrochen. Das Völkerrecht! Die Menschenrechte! Nichts gilt mehr! Mit einem Mal ist die Sicherheitsordnung in der Welt in sich zusammengebrochen. Fassungslos steht die westliche Politik vor dem Scherbenhaufen ihrer Wandel-durch-Handel-Strategie und redet verwirrt von einer „Zeitenwende“, ohne allerdings eine Ahnung davon zu haben, wohin das Blatt sich wirklich wendet. So scheint die Zeit eher still zu stehen, denn keiner weiß, was morgen sein wird.
Nur eines scheint sicher: Wieder einmal steht die Welt vor einem Abgrund. So drohte Putin Ende April dem die Ukraine militärisch unterstützenden Westen mit schnellen Gegenschlägen: Wer sich von außen einmischen wolle und eine für Russland unannehmbare strategische Bedrohung schaffe, müsse wissen, dass die Antwort „blitzschnell und rasch“ sein werde. „Wir haben dafür alle Instrumente«, warnte der Kremlchef. „Und wir werden nicht prahlen. Wir werden sie anwenden, wenn es nötig ist.“
Dmitri Kisseljow, der Chef der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja und langjährige Mitarbeiter des Staatsfernsehens, der oft auch als „Chef-Propagandist des Kreml“ bezeichnet wird, und der einzige Journalist Russlands ist, der nach der Krim-Annexion wegen seiner drastischen Haltungen auf die Sanktionsliste der EU gesetzt wurde, wird in diesem Zusammenhang da wesentlich konkreter als Putin, wobei sich der nachgerade unvorstellbare Hass, den die russischen Meinungsmacher auf den demokratischen Westen pflegen, wieder einmal auf unerträgliche Art und Weise deutlich wird. So drängte Kisseljow in einer Sendung des russischen Staatsfernsehens Putin dazu, die gefährlichste Nuklearwaffe Russlands, die „SM39“, die auch „Poseidon“ genannt wird, gegen Großbritannien einzusetzen und dieses komplett „von der Landkarte zu wischen“. Bei dieser Waffe handelt es sich wohlgemerkt um eine Unterwasserdrohne, die einem Torpedo gleich bis zu 10.000 Kilometer Reichweite haben soll. Experten halten es für möglich, dass sich die nuklear angetriebene Waffe zu schnell und leise fortbewegt, um gestoppt und abgewehrt werden zu können. Laut Kisseljow soll „Poseidon“ mit einem 100-Megatonnen-Nuklearsprengkopf ausgerüstet werden können. Zum Vergleich: die Sprengkraft der Atombombe, die die Amerikaner auf Hiroshima abwarfen, betrug keine 14 Tonnen. Unter Wasser gezündet soll sie eine Tsunami-Welle in Höhe von bis zu 500 Metern auftürmen können, behaupten kremltreue Medien.
Währenddessen scheint Russlands Militär ohnehin davon überzeugt, dass es ein Fehler gewesen sei, die Ziele des Kriegs zu begrenzen. Russland bekämpfe nicht die Ukraine, sondern die Nato. Deshalb fordere man den totalen Krieg, inklusive einer Generalmobilmachung. In diesem Kontext allein an Putins Geisteszustand zu zweifeln, ist töricht, denn Russland scheint von einer imperialistischen Clique in Besitz genommen, deren besinnungsloser Machtwahn durch nichts mehr zu überbieten ist.
Wollt ihr den totalen Krieg? – Goebels Rede an das deutsche Volk am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast müsste den Menschen in Deutschland eigentlich noch im Ohr klingen. Folglich sollten sie sich endlich aus ihrem Wohlstandstraum befreien und sich zur Wehr setzen. Denn auch sie werden angegriffen, die von den Russen ob ihres morbiden Superindividualismus, ihrer gleichzeitigen Labilität und anwidernden Verschwulung ohnehin total verachtet werden. Denn in Russland herrscht das Kollektiv, da hat der Individualismus nichts zu suchen.
Die Zeit drängt. Aber statt entschieden zu handeln, diskutiert Deutschland nun schon eine Weile darüber, ob man der Ukraine mit schweren Waffen unter die Arme greifen dürfe, oder nicht? Dabei ist diese Frage relativ einfach zu beantworten, sollte Deutschland doch gemeinsam mit seinen Partnern der EU und der Nato alles dafür tun, dass sich die Ukraine wehrhaft gegen die russischen Aggressoren zur Wehr setzen und ihr Land verteidigen kann. In diesem Zusammenhang von „leichten“ oder „schweren“ Waffen zu reden, ist Unsinn. Nicht nur mit Gewehren, sondern auch mit Panzern kann man nichts anderes als schießen. Es kommt also nur darauf an, warum man schießt: Entweder, um anzugreifen, oder aber um den Angriff abzuwehren. Und da es ums Letztere geht, sind Waffenlieferungen an die Ukraine absolut nötig, und völkerrechtlich zudem völlig legal. Warum also macht Deutschland nicht hinreichend Gebrauch von seinem Recht? Es ist verpflichtet dazu, denn damit bricht es keine Gesetze. Es ist Russland, das das Völkerrecht mit Füßen tritt.
Deutschland sollte sich endlich bewußt machen, dass ein Sieg Russlands über die Ukraine verheerende Folgen haben dürfte: Denn dann würden auch Staaten wie Moldau, Tschechien, der Slowakei oder die des Baltikums von den Russen angegriffen. Wenn Deutschland jetzt nicht klare Kante zeigt, könnte das letztlich böse Folgen nach sich ziehen. Und eine klare Kante ist offenbar das Einzige, worauf Putin reagiert: „Wir haben geglaubt: Wenn wir in den Kategorien von Gewalt und Krieg denken, bereiten wir ihm den Weg. Das Gegenteil stimmt: Weil Putin gemerkt hat, wie unvorstellbar für uns die Anwendung von Gewalt geworden ist, hat er sich so viel getraut. Er weiß, wie er uns Angst machen kann“, so Florence Gaub, die Vize-Direktorin des Instituts für Sicherheitsstudien der EU in Paris.
Offenbar haben es in Deutschlands Demokratie viele Menschen verlernt, was es heißt, in Freiheit zu leben, beziehungsweise mit ihr umzugehen. Denn Freiheit realisiert sich nur dann, wenn man innerlich auch dazu bereit ist, für sie einzutreten. Freiheit ist kein statischer Zustand, sie ist ein sozialer Prozess. So gilt es eigentlich immer, sie auch zu verteidigen, wenn es nötig ist. Nicht nur im Alltag, sondern erst recht dann, wenn die Demokratie von außen angegriffen wird. Und dies geschieht bereits mit aller Gewalt im Internet, sind doch die russischen Cyberangriffe mittlerweile schon voll im Gange: Gerade hat beispielsweise Killnet, eine regierungstreue russische Aktivistengruppe, mit Hackerangriffen für Störungen auf den Webseiten deutscher Behörden und Ministerien gesorgt; so unter anderem bei der Bundespolizei sowie bei mehreren Landespolizeibehörden. Auch der Bundestag und das Bundesverteidigungsministerium waren betroffen. Mit dem Einsatz digitaler Waffen scheint Russland angesichts seiner barbarischen Taten in der Ukraine doch nicht so weit in die Geschichte zurückgefallen, wie man denkt. Wobei sich mittlerweile Killnet in Telegram selbst zu den Attacken auf die deutschen Behörden bekannte. Wohl, um den Deutschen mal zu zeigen, woher der Wind weht.
Selbstverständlich zieht Wehrhaftigkeit mitunter auch schlimme Konsequenzen nach sich. Sogar physische! Denn selbst in Deutschland ist es mittlerweile nicht ungefährlich, einem von Rowdies Angegriffenen beiseite zu stehen, da man dabei immer damit rechnen muss, selbst auch zusammengeschlagen zu werden. Im Kriegszustand aber wird das Ganze noch brenzliger: Denn. jetzt heißt es für alle, den Gürtel enger zu schnallen und womöglich harte Entbehrungen auf sich zu nehmen. Aber in Deutschland verhalten sich immer noch viele Menschen so, als wären sie nicht gemeint, frönen dem uneingeschränkten Konsum und gehen unbekümmert in den Urlaub.
Doch wie immer es auch sei, die Welt muss sich auf alles gefasst machen. Und das heißt nichts anderes, als sich im Hier und Jetzt mit allen zu Gebotene stehenden Möglichkeiten zu verteidigen. Wer sich durch die Androhung eines Atomangriffs von Russland erpressen lässt, öffnet Putin Tor und Tür. Ob Deutschland Konfliktpartei wird, hängt allein vom Gutdünken Putins ab.
In diesem Sinne ist es in Wahrheit das Phänomen Putin selbst, das die Welt in Schockstarre versetzt. Eine unberechenbare, wie aus der Zeit gefallene Herrscherfigur, die in ihrer imperialistischen Attitude und unsagbaren Grausamkeit mitten im zivilisierten Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr vorstellbar schien. Mit Putin aber ist der euphorische Fortschrittsglaube der westlichen Zivilisation endgültig in sich zusammengebrochen. Derjenige nämlich, der im Wesentlichen doch immer nur am technologischen Progress orientiert war, den Menschen aber praktisch aus den Augen verloren hatte.
Diese Tatsache aber entpuppt sich angesichts der Dämonie des russischen Despoten nun als blanker Hohn. So, als könnte man schon das Homerische Gelächter hören. Despoten vom Zuschnitt Putins aber sind nicht etwa vom Erdboden verschwunden – nein, fatalerweise wird sie es immer geben, solange es Menschen gibt. So hat der Mensch im Verlauf seiner Geschichte auf Erden unbestritten schon viel errungen, es dabei aber leider nicht geschafft, mit sich selbst zurande zu kommen – homo homini lupus. Irgendein äußeres Korsett scheint er zu benötigen, um nicht aus der Haut zu fahren. Er ist und bleibt unberechenbar. Das ist es, was das Phänomen Putin uns lehrt. Trotz all seiner technischen Errungenschaften verharrt der Mensch aufgrund seiner genetisch-bedingten Verhaltensmuster in Wahrheit immer noch auf dem Level eines Steinzeitmenschen – gemacht für ein ganz anderes Leben, in dem es wohl alltäglich um Tod oder Leben ging und überall der Feind lauern konnte – ob Tier oder Mensch.
Und so, wie es offenbar immer Menschen geben wird, die andere beherrschen wollen, so wird es auch immer solche geben, die sich beherrschen lassen. Und sich womöglich auch noch daran gewöhnt haben, weil sie partout nichts anderes erfahren haben in ihrem Leben, als unter Kuratel zu stehen. Diesen Eindruck kann man zumindest beim russischen Volk gewinnen, dessen Knechtschaft sich praktisch schon Jahrhundertelang durch dessen Geschichte zieht – vom Zarenreich bis heute.
Daran änderte bekanntlich auch die Oktoberrevolution im Jahre 1917 nichts, waren es jetzt doch nicht mehr die Zaren, die das Volk fest in der Hand hielten und knechteten, sondern die Kader der Bolschewiki, die wiederum auch nur nach der Pfeife eines Einzelnen tanzten, der Wladimir Iljitsch Lenin hieß. So hat es den Anschein, als hätte sich das russische Volk auf fatale Art und Weise an seine nicht enden wollende Unterdrückung gewöhnt, so duldsam und unterwürfig, wie es gegenwärtig erscheint. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass jeder Russe, der es wagt, hinsichtlich der Gräuel in der Ukraine das Wort Krieg in den Mund zu nehmen, öffentlich infrage zu stellen, augenblicklich inhaftiert und für Jahre eingekerkert wird. Ja, mittlerweile reicht schon ein hochgehaltenes Plakat mit weißer Fläche, um denjenigen, der solcherart die russische Staatsführung brüskieren will, unverzüglich festzusetzen – Methoden, die selbst unter Breschnews Diktatur schlichtweg undenkbar gewesen wären.
Und dennoch: Beim russischen Volk scheinen Putins Beliebtheitswerte im Augenblick sogar noch zu wachsen: Denn offenbar sehen viele in ihm einen Staatenlenker mit bewunderungswürdigem Charakter, weil er es versucht, sich die alten Gebiete der Sowjetunion wieder einzuverleiben, um damit Russlands Macht in der Welt zurückzuerobern. Und den Preis hierfür zahlt das russische Volk offensichtlich gerne, auch wenn dieser nur mit weiterem Leid zu erkaufen ist. Aber was soll’s? Wie gesagt, das russische Volk ist Leid gewöhnt und nimmt die Politik anscheinend wie schlechtes Wetter, an dem man ohnehin nichts ändern kann.
Spätestens mit Putins Krieg aber ist deutlich geworden, dass es hinsichtlich der aus den Fugen geratenen politischen Weltlage längst nicht mehr darum geht, wer als Nation die größte Wirtschaftsmacht des Globus innehat. Denn nun scheint es tatsächlich nur mehr darum zu gehen, für welches Gesellschaftsmodell ein Staat eintritt. Demokratie versus Diktatur – das ist der eigentliche Kampf, in dem sich die Nationen in der gegenwärtigen Welt wiederfinden.
Und welches der beiden Gesellschaftssysteme hat Zukunft? Das, das auf Krisen blitzschnell zu reagieren weiß, und die notwendigen Entscheidungen auch unverzüglich bis in die letzten gesellschaftlichen Winkel des Landes umzusetzen versteht. Oder dasjenige, dessen Mühlen auch in solchen Situationen eher langsam mahlen, weil endlose Debatten den staatlichen Maßnahmen immer vorausgehen. Schließlich soll das Volk entscheiden, oder dessen parlamentarischen Vertreter, und nicht der Diktator.
In diesem Sinne betrachtet, haben autoritäre Systeme derzeit offenbar Konjunktur, wohingegen den Demokratien heftiger Gegenwind entgegenbläst. Dies aber nicht von außen, sondern erstaunlicherweise von innen, obwohl sich in den demokratischen Gesellschaften jeder Mensch auf die ihm eigene Art und Weise frei äußern und entfalten können soll, wenn er denn will. Und trotzdem scheinen viele Menschen unzufrieden mit ihrem Leben, da sie gar keine Chance dazu haben, sich zu entfalten. So wächst zum Beispiel allein in Deutschland, der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, jedes fünfte Kind in Armut auf. Das sind 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Darüber hinaus scheint aber auch eine besorgniserregende Verwirrtheit bei vielen Menschen um sich zu greifen, die nicht nur in Deutschland im öffentlichen Raum für Hysterie und Unruhe sorgt – im Netz wie auf den Straßen, wobei die Rechtsradikalen immer mehr Opfer unter diesen finden.
Die Instabilität ihrer Gesellschaften machen den demokratischen Ländern Angst. So zum Beispiel in Deutschland, wo einer aktuellen Allensbach-Umfrage zufolge 31 Prozent der Bürger das politische System der Demokratie infrage stellen und glauben in Wahrheit in einer Scheindemokratie zu leben. Oder in Frankreich, dessen Regierung die Angst vor den Gelbwesten noch in den Gliedern steckt und Befürchtungen hegt, dass sie sich bald wieder bemerkbar machen und das Land ins Chaos stürzen könnten. Dabei hat Frankreich erst jüngst gerade noch Marine Le Pen als neue Präsidentin verhindert, wobei man wissen muss, dass dort bei Wahlen mittlerweile mehr als 50 Prozent der Stimmen auf Rechte, Rechtsextremisten und Linksextremisten entfallen, wohingegen sich die traditionellen Parteien ohnehin längst in Luft aufgelöst haben. Und in Italien sieht es nicht viel anders aus, denn dort liegen in allen Umfragen auch rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien zurzeit bei etwa 40 Prozent. Und in den USA ist Donald Trump bemerkenswerterweise nach wie vor der beliebteste Politiker im Land – seine Wiederwahl in drei Jahren scheint also durchaus im Bereich des Möglichen. Das neue Abtreibungsgesetz des Supreme Court, das er ja ohnehin von Anfang an propagierte, wird ihm mit den Weg bereiten.
Der Mensch spielt verrückt. Womöglich wird er die Folgen des Klimawandels gar nicht mehr abwarten müssen, weil er sich vorher schon gegenseitig zerfleischt haben wird.