Peter Mussbach
Von Plastiktüten und Anderen

Erzählung

Eine Erzählung in 5 Kapiteln

DIE PLASTIKTÜTE / 1

Eine Plastiktüte wirbelt einsam durch die sturmgepeitschte Landschaft, wird urplötzlich von einer heftigen Böe erfasst und weit nach oben in wolkenlose, schwindelerregende Höhen geschleudert. Über hoch aufragende Wolkenkratzer und abgrundtiefe Straßenschluchten hinweg, deren nächtliche Lichter zu ihr herauffunkeln wie Sterne. Bei dem aberwitzigen Treiben, dem sie völlig wehrlos ausgeliefert ist, kann sie bald zwischen oben und unten nicht mehr unterscheiden und wird von einem bösen Schwindelanfall übermannt. Überall sieht sie Sterne - der Tüte ist speiübel. Schon wähnt sie sich durch den Äther davonzufliegen und sich im Nirgendwo zu verlieren. Mein Gott, sie ist der Welt abhanden gekommen. Dagegen hatte ihre Stiefschwester in American Beauty einst leichtes Spiel, vor einer Mauer knapp überm Boden sachte vom Wind hin und her getragen. Die Tüte zögert: vielleicht hat sie ja auch Glück im Unglück und fliegt zu einer anderen Erde auf der es wohnlicher ist? Die zunehmende Hitze macht ihr zu schaffen. Sie hat Angst zu schmelzen und zu vergehen.

Aber sei’s drum. Denn das, was gerade mit ihr veranstaltet wird, ist selbst ihr zuviel, obwohl sie durchaus hart im Nehmen ist. Ist sie doch eine von der wirklich starken und vornehmen Sorte: Also vollkommen durchsichtig, übergroß und absolut reißfest. Und ohne jeglichen Werbeaufdruck distinkt neutral. Mit ihr in der Hand muss sich keiner schämen. Außerdem käme kein Penner der Welt auf die Idee, in ihr seine Lebensmittel zu bunkern, die er - im Abfall wühlend - ergattert hat. Aristokratische Tüten tragen ihren Inhalt offen zur Schau und fordern nachgerade dazu heraus, behutsam mit ihnen umzugehen. Keiner wagt es, sie achtlos hin und her zu schleudern.

Noble Tüten wie sie erhält man zum Beispiel am Airport. Dann nämlich, wenn man internationale Presse und Magazine und Bücher für einen Langstreckenflug eingekauft hat, weil man sich nicht langweilen will und partout keine Lust auf Videos oder Bordgespräche hat. Und just so war sie selbst vor Monaten auch in den Warenverkehr gelangt. Am Flughafen von San Francisco, um es genau zu sagen. Aber daran erinnert sie sich nur noch vage, denn das ist lange her – für eine Plastiktüte zumindest. Und ehrlich gesagt weiß sie auch nicht mehr so genau, wie der ältere Herr aussah, dem sie half, seine Magazine nebst drei Hardcoverwälzern und eine Menge Packungen Pfefferminzpastillen in die Erste Klasse zu bugsieren. Denn bald schon war sie in der Kabine fest eingeschlafen und erst in der Hand einer Stewardess wieder aufgewacht, die ihre Shoppingausbeute aus San Francisco in sie hineingepackt hatte, weil sie nicht mehr in den Koffer passte. Und seitdem war sie praktisch ohne Unterlass im Einsatz gewesen – tagsüber und auch nachts. Normalerweise landen Plastiktüten rasch im Müll. Kein Hahn kräht mehr nach ihnen. Sie aber war begehrt auf Erden. Und keiner sollte sich in Zukunft so schnell wieder von ihr trennen wollen, wie der ältere Herr, der sie von San Francisco aus in die Welt hinaus getragen hatte, dann aber hatte liegen lassen. Der Mann hatte sich offenbar für was Besseres gehalten.

Etwas angesäuert schaut sie zurück zur Erde und atmet erleichtert auf. Ohne es recht mitbekommen zu haben, hat sich der Sturm wie durch ein Wunder gelegt. In ruhigen, weitgezogenen Kreisen schwebt sie sanft wieder der Erde entgegen als hinge sie sicher am Fallschirm.

Urplötzlich wird sie aufgeschreckt. Hohnlachend ist ein großer schwarzer Vogel an ihr vorbei gezischt. Die Tüte wird rot. Sie schämt sich, keine Flügel zu haben. Für den Vogel muss sie ein jämmerlicher Anblick gewesen sein. So groß und doch so hilflos. Beinahe wäre sie mit dem Untier noch zusammengeprallt. Kein Wunder, man sieht sie ja kaum, sie ist ja durchsichtig. Eine Seele von Plastiktüte.

Die Plastiktüte / 2

Die Tüte zuckt zusammen: Kaum gelandet, hat sich auch schon irgendwer nach ihr gebückt und sie aufgehoben - mitten in der Nacht wie ein Himmelsgeschenk. Und das so unvermittelt rasch, dass sie’s kaum mitbekommt. Sie ist ja noch völlig beduselt. Die aberwitzige Eskapade, die der verfluchte Sturm ihr zugemutet hat, sitzt ihr noch in den Knochen. Sie wollte zwar immer schon hoch hinaus, aber muss man’s gleich wörtlich nehmen?

Allmählich hellt sich ihre Stimmung auf. Glücklicherweise trägt man sie so wie’s einem Kaliber ihrer Art zusteht: Ruhig und aufrecht gleitet sie dahin wie eine Königin. Kein hässlicher Schlenker stört, kein unachtsamer Stoß bringt sie um den Verstand. Die Tüte kann sich nicht erinnern, je so behutsam, ja liebevoll umsorgt worden zu sein – sie schwebt im siebten Himmel. Langsam lässt auch die lästige Übelkeit nach, die sie in großer Höhe überfiel, und verabschiedet sich mit leiser, diskreter Flatulenz. Nur das Heulen des Sturms tobt ihr noch im Ohr. Aber sei’s drum, sie wird ja förmlich auf Händen getragen.

Das kann nur ein Mann sein, da ist die Tüte sich sicher. Sie spürt es am Druck der Hand. Kräftig und entschieden als seien sie längst ein Paar. Ungeahnte Glücksgefühle durchströmen sie. Soll sie aufschauen zu ihm? Sie zögert. Nein, keinesfalls, der Holde könnte sie falsch verstehen. Besser sie wartet ab, bis er ihr Avancen macht. Etwas anderes ziemt sich nicht. Wonniglich lässt sie sich hängen und gibt sich ganz der Männerhand hin, die sie verführen will und blickt beiläufig an sich herunter. Hoffentlich hat sie der Sturm nicht unnötig zersaust. Aber mein Gott, was redet sie, sie ist ja unverwüstlich.

Die befremdliche Stille um sie herum bemerkt sie erst jetzt. Irritiert blickt sie sich um – verdammt, die Straßen sind ja menschenleer. Kein Schwanz zu sehen. Und dies hier im Rotlichtmilieu wo sie zufällig gelandet ist.

Die Tüte kennt das Viertel. Erst vorgestern Nacht – etwa um die gleiche Zeit – war sie hier einkaufen gewesen und hatte einer Tussi dabei geholfen, ihren neuen Vibrator nachhause zu tragen. In neutraler Verpackung, versteht sich, sie ist ja durchsichtig. Die Tussi hatte es verdammt eilig: rücksichtslos hatte sie sich einen Weg durchs Gedränge der Leute gebahnt, die aufgekratzt durch die Straßenschluchten zogen, und sie dabei so gemein hin und her geschleudert, dass ihr bald Hören und Sehen verging. Sie will nicht mehr dran denken – Tüte kann auch Fron bedeuten. Aber jetzt? Die Sache hier kommt ihr spanisch vor. Noch nicht mal ein Türsteher lässt sich blicken und lädt zum schnellen Vergnügen ein.

Auch der Strom ist ausgefallen. Die Tüte fröstelt. Kurzschluss – in einem ganzen Viertel? Hier unten in den Straßenschluchten wirkt das verlassene Areal im fahlen Mondschein wie eine verblasste Schwarzweißfotografie auf Glas – ein durchsichtiges Niemandsland im Zwielicht. Übergroße bleiche Titten auf billigen Postern schimmern im Dämmer auf einmal zu ihr herüber wie die von Toten. Angewidert wendet sie sich ab, ihr wird es angst und bange. Ist sie etwa in einer Parallelwelt gelandet, deren Widerschein an die alte erinnert? Aber halt, da vorn wird’s heller. Erleichtert atmet sie auf. Da sind sicher auch Leute, denkt sie und glaubt schon Stimmen zu hören.

Mit einem Mal wird angehalten – die Tüte durchfährt ein Höllenschreck. Einen Moment lang schwankt sie widerwärtig hin und her und versucht die Orientierung wiederzugewinnen. Ihr stockt der Atem: mutterseelenallein findet sie sich inmitten eines großen Platzes wieder, der im taghellen Mondschein anmutet wie das Reich einer längst vergangenen Schattenkultur.

Urplötzlich fühlt sie sich nach oben schweben. So langsam und sanft, dass sie’s kaum bemerkt – ihr schlägt das Herz bis zum Hals. Welch wunderbare Avance des Geliebten, ihr die Chance zu geben, ihm zum allerersten Mal auf Augenhöhe begegnen zu dürfen. Hier unterm Vollmond und nicht im Dämmer des Rotlichtmilieus. Obwohl sie eine Tüte ist, will sie nicht einfach so genommen werden.

Du lieber Himmel – die Tüte erschrickt zu Tode. Das ist kein menschliches Angesicht, das sie erblickt.
Verdammt, wo sind die Augen?
Und wo der Mund?
Die Tüte kollabiert.

DIE PLASTIKTÜTE / 3

„Hallo!“
Hallo? Die Tüte erzittert: Hat da jemand Hallo gesagt, eine angenehm sonore Stimme, so einfühlsam und beruhigend wie die eines Therapeuten?

Langsam findet die Tüte in die Realität zurück und schielt vorsichtig und noch leicht benommen nach dem fremdartigen Wesen, das sie noch immer hoch erhoben in der Luft hält und skeptisch zu betrachten scheint, als hätte es noch nie eine Tüte gesehen. Ja, richtig, jetzt kann sie auch dessen Augen erkennen. Oder so was Ähnliches zumindest: Zwei hell aufleuchtende rote Pupillenknöpfe, die sie hinter dunkel getöntem Glas eindringlich fixieren wie durch eine übergroße Skibrille hindurch. Die Tüte stutzt verwundert, einen richtigen Kopf aber hat das absonderliche Wesen nicht. Stattdessen einen kreisrunden Metallzylinder ohne Nase und Mund, der im Mondlicht so geheimnisvoll aufschimmert als gehöre er einem Alien. Konsterniert blickt sich die Tüte um. Wer bloß hat da gerade Hallo gesagt? Aber da ist niemand, die nächtliche Stadt ist menschenleer. Die Tüte kriegt es mit der Angst zu tun, aber nimmt sich ein Herz.

„Hallo!“, sagt sie mit zitternder Stimme und äugt verunsichert auf die untere Stelle des mächtigen Zylinders, wo eigentlich der Mund sitzen müsste, wenn drüber schon Augen sind. „Hallo!“, erwidert das Ding stoisch. „Keine Angst, ich bin ein Roboter. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Eine Tüte, wenn’s recht ist!“, erwidert sie echauffiert und wundert sich nicht mehr: Maschinen haben keinen Mund.
„Eine Tüte. Richtig“, räsoniert der Roboter. „Aber eine ganz besondere, nicht wahr?“
„Kann man so sagen, wenn man sich auskennt in der Welt“, antwortet die Tüte sichtlich erleichtert. Ihr Stolz kehrt zurück.
„Praktisch durchsichtig und ohne jegliche Werbung drauf“, konstatiert der Roboter erstaunt. „Wie kann man da eigentlich wissen, dass man eine Tüte ist?“

Die Tüte zögert und versucht ein Lächeln, obwohl sie in Wahrheit furchtbar beleidigt ist. Und als sie beiläufig zur Seite blickt entdeckt sie auf einmal den glänzenden Metallarm des Roboters der sie neugierig ins Mondlicht hält während die Laserstrahlen des Geräts sie von oben bis unten taxieren, als sei sie ein Kunstobjekt von Duchamps. Die Tüte kommt sich vor, wie in einem bösen Traum. Ein Roboter hat sie gekidnappt. Aber so schnell gibt sie nicht auf und hält gegen.

„Sie sind sicher auch von der interaktiven Sorte, wenn ich das mal unterstellen darf?“, sagt sie säuerlich die Maschine frech herausfordernd.
„Nun, interaktiv würde ich mich nicht nennen, meine Liebe“, erwidert der Roboter mit unverhohlenem Lachen in der Stimme. „Ich bin eher selbstständig und kümmere mich lieber um mich selbst, statt mich wie Sie so durch die Gegend tragen zu lassen. Was, bitte, soll an einer Tüte schon interaktiv sein? Tüten sind doch eher passiver Couleur, soweit ich unterrichtet bin. Aber belehren Sie mich eines Besseren, man lernt ja nie aus.“
„Na hören Sie mal, was reden sie so despektierlich daher. Ich verabscheue Passivität. Halten Sie mich etwa für masochistisch?“
„Aber nein, wo denken Sie hin? Sie haben mich falsch verstanden!“, lenkt der Roboter ein.
„Na also, dann ist es ja gut“, fährt die Tüte ihm ungeduldig ins Wort. „Ich ertrage nämlich nur taktvolle Persönlichkeiten, müssen Sie wissen. Nur solche also, die mich als Gegenüber wirklich zu achten in der Lage sind und durchaus wissen, was sie an mir haben. So gewinnen sie meine uneingeschränkte Solidarität, der ich zum Beispiel dann Ausdruck verleihe, wenn ich den mir anvertrauten Inhalt in verblüffender Weise ganz entspannt erglänzen lasse, als sei er eine äußerst seltene Kostbarkeit. Das wertet meinen Partner auf und gibt mir selbst ein wunderbares Gefühl der Selbstachtung. Wenn das nicht mal Ausdruck meiner Interaktionsfähigkeit ist, will ich keine Tüte sein, mein Lieber! Ich lasse mich nicht mit jedwedem ein, nur dass das schon mal klar ist zwischen uns. Für Sklavendienste bin ich nicht zu haben.“

Der Roboter lacht amüsiert auf. „Nun geben Sie mal nicht so an, Werteste. Das ist doch reine Ideologie, ja krude Verschleierungstaktik wie Sie daherreden. Sie und interaktiv, dass ich nicht lache. Wie wollen Sie denn mit ihren sogenannten Partnern auf Augenhöhe kommunizieren? Haben Sie etwa Minderwertigkeitsgefühle, nur weil sie eine Tüte sind?“

Die Tüte könnte aus der Haut fahren. „Wie kommen Sie denn da drauf, seh’ ich etwa so aus?“
„Nein, nein“, erwidert die Maschine überraschend kleinlaut. „Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“
„Na, Sie legen ja ganz schön los, mein Lieber, wo wir uns doch noch kaum kennen. Sie sind doch nur eine Maschine, soweit ich das beurteilen kann. Woher dann dieser Übermut und diese nachgerade penetrante Selbstüberschätzung? Könnten Sie mich bitte mal etwas weiter von sich weg halten, sodass ich Sie ganz auf mich wirken lassen kann.“
„Aber selbstverständlich, meine Liebe. Schauen Sie mich an, ich war einst der letzte Schrei. Bin nämlich nicht nur mit Emotionen ausgestattet, sondern auch mit ultimativem Bewusstsein – eine ganzheitliche Persönlichkeit also mit starkem Willen. Voilà!“
„Wollen Sie mir damit etwa sagen ich hätte keinen?“, hakt die Tüte verunsichert nach.
„Nun ja, Arme und Beine fehlen. Da reicht der Willensausdruck allein nicht aus", bemerkt der Roboter harsch. "Da braucht es schon Körperteile, um ihn auch umzusetzen und wirklich zur Tat werden zu lassen!“

„Ach lassen wir das verdammte Philosophieren“, fährt die Tüte enerviert auf. „Was ist hier in der Stadt eigentlich los? Ist ja kein Schwein unterwegs. Haben Sie eine Ahnung, warum?“ „Nun, wie soll ich’s sagen“, murmelt die Maschine zögerlich und verstummt.
„Nun? So sagen Sie schon, Mann! So schlimm kann es doch nicht sein. Gibt sicher gerade ein Champions-League-Finale im TV!“
„Von wegen!“, sagt der Roboter leise. „Die Menschen sind weg! Aber bitte keine Panik jetzt, das fehlt mir gerade noch, wo’s endlich ruhig ist.“

Noch eh sich’s die Tüte versieht, wird sie liebevoll in die Arme genommen und sachte hin und her geschaukelt wie ein kleines Kind. „Keine Angst, Werteste. Ich werd' Sie schon nicht irgendwo liegen und zum Spielball der Elemente verkommen lassen“ raunt der Roboter und beugt sich besorgt zu ihr herunter. Vor Erschöpfung fallen der Tüte die Augen zu. Sie fühlt sich geborgen.

DIE PLASTIKTÜTE / 4

Die Tüte erwacht. Aus einem furchtbaren Traum: Schier ewig war sie dahingewirbelt, über endlose Weiten hinweg. Ohne zu wissen, warum – kein Lüftchen regte sich. Noch völlig benommen stöhnt sie auf.
„Was ist?“
Mein Gott, der Roboter! Schlagartig findet die Tüte in die Realität zurück. „Ach nichts!“, murmelt sie gedankenverloren. „Wo sind wir?“
Abrupt bleibt der Roboter stehen.
„In der Wüste!“
„In der Wüste?“, erwidert die Tüte schlaftrunken. Sie glaubt sich verhört zu haben.
„In der Wüste!“, konstatiert der Roboter lapidar. „Schon seit drei Tagen. Du hast tief und fest geschlafen. Gab keinen Grund, dich aufzuwecken.“
„Na hör mal!“, ruft die Tüte empört und blinzelt angespannt in die Gegend. „Tatsächlich!“, entfährt es ihr. „Nur Sand soweit das Auge reicht. Aber, verdammt, was machen wir hier? Warum sind wir nicht in der Stadt geblieben?“
„Ging nicht.“
„Warum nicht?“
„Muss mir neue Batterien besorgen. Hab dort keine aufgetrieben. Sind Spezialbatterien, musst du wissen. Die gibt’s in keinem Laden.“
„Du brauchst Batterien?“
Fassungslos schaut die Tüte zum Roboter auf.
„Lauf schon auf Notstromaggregat, viel Zeit bleibt uns nicht!“
„Notstrom? Das darf doch nicht wahr sein!“, ruft die Tüte entrüstet und starrt ratlos in einen wolkenlosen Himmel von dem eine aufgeblähte Sonne gnadenlos herunterbrennt. „Na, das kann ja heiter werden“, frozzelt sie. „Notstrom in der Not!“
„Du musst grad reden!“, brummt der Roboter verärgert. „Liegst entweder zerknittert oder, wenn’s hochkommt, gefaltet in der Ecke rum, und hängst ansonsten den Leuten am Arm! Aber die Dame kann sich solche Reden ja erlauben, schließlich ist sie unverwüstlich und wird tausende Jahre alt. Aber wofür, wenn ich fragen darf? Da ist mir das bisschen Elektrizität am Arsche lieber. Die verschafft wenigstens Spielraum.“

Die Tüte schweigt. „In welcher Wüste sind wir eigentlich“, fragt sie nach einer Weile betont freundlich. Schließlich will sie den Roboter nicht vergrätzen.
„Keine Ahnung!“, sagt der Roboter einsilbig und trottet weiter. Der Sand knirscht unter seinen Füssen.
„Wie, du weißt das nicht?“ Die Tüte versucht sich im Zaum zu halten. „Das ist aber seltsam“, fügt sie kleinlaut hinzu.
„Meine Orientierung ist ausgefallen.“
„Was heißt das?“ Der Tüte wird mulmig.
„Ohne GPS hab ich keine Ortung. Das System ist out of order. Keine Ahnung, warum?“
„Du bist abhängig vom GPS?“ Die Tüte schluckt. „Dachte du bist perfekt vernetzt. Als Maschine hat man so was doch drauf. Du bist doch hoffentlich nicht von vorgestern. Mann, das könnte gefährlich werden, hörst du! Für uns beide wohlgemerkt. Schließlich bin ich abhängig von dir. Ist ja kein Mensch mehr da, wie du sagst ...“
Die Tüte kneift die Augen zusammen, sie hat Angst vor der Antwort.
„So ist es. Aber wir schaffen das schon.“
„Sagst du!“
„Irgendwie werden wir durchkommen, glaub mir.“

Die Tüte verstummt und schielt trübsinnig in die Wüstenei. Nichts als ein verdammter Roboter ist ihr geblieben. Eine offenbar vorsintflutliche Maschine. Ohnmächtig vor Verzweiflung schluchzt sie auf. 

„Das darf doch nicht wahr sein!“, hört sie auf einmal den Roboter. „Da, dort drüben, siehst du?“
Neugierig blickt sich die Tüte um und erstarrt: „Eine Megacity, mitten in der Wüste!“, entfährt es ihr argwöhnisch, als sie die imposante Silhouette bemerkt, die in der Ferne verheißungsvoll zu ihr herüber flirrt.

„Gerettet!“, brummt der Roboter und zwinkert der Tüte hoffnungsfroh zu. „Glück im Unglück – dort finden wir sicher was wir suchen!“
„Schutz und Halt!“, raunt die Tüte traumverloren.
„Und Batterien. Wenn nicht dort, wo sonst.“

„Überstürzt hastet der Roboter los.
Die Tüte fliegt im Wind.
Nie hat sie sich leichter gefühlt.
Sie ist glücklich.

DIE PLASTIKTÜTE / 5

„Um Gottes willen ...!“
„Was ist?“, brummt der Roboter entkräftet. Tief gebückt stapft er durch den Wüstensand.
 „Wir haben uns verlaufen!“
„Wieso?“
Schwerfällig bleibt der Roboter stehen und glotzt verunsichert in die Gegend.
„Und, was sagst du jetzt? Du hast den falschen Weg eingeschlagen, verdammt!“
„Unmöglich. Bin stur geradeaus gelaufen. Wir müssten eigentlich schon längst da sein!“
„Von wegen!“, erwidert die Tüte aufgebracht. „Ich seh’ keine Stadt. Vielleicht bist du ja im Kreis gelaufen? Mit GPS wäre dir das nicht passiert!“

Mühsam dreht sich der Roboter nach allen Seiten hin um. Das dauert - der Sand knirscht schon im Getriebe. „Verflucht!“, entfährt es im schließlich. Ungläubig sinkt er zu Boden.
„Vorsicht!“, ruft die Tüte ängstlich. „Du zerquetschst mich noch!“
„Hab dich nicht so. Ist doch gar nichts passiert!“
„Glücklicherweise! ... Und jetzt?“
„Keine Ahnung!“, erwidert der Roboter einsilbig.
„Keine Ahnung sagt die Maschine, ich fass es nicht!", fährt die Tüte auf. „Und das in einem Ton, als wär’s ihr völlig egal. Dachte du bist mit Emotionen gefüttert? Die Stadt hat sich in Luft aufgelöst, scheint dich aber nicht weiter zu kümmern!“
 „Muss ne Fata Morgana gewesen sein!“, brummt der Roboter resigniert und schaut ratlos in die flirrende Hitze.
„Ne Fata Morgana ...?“

Die Tüte lacht höhnisch auf. „Der Blechhaufen ist einer optischen Täuschung auf den Leim gegangen, das darf doch nicht wahr sein. Das kommt davon, wenn man künstlich ist und in einer virtuellen Welt lebt. Wie soll man da zwischen real und irreal unterscheiden können. Du hast eben nichts als Scheiße im Kopf!“ Die Tüte schluckt. „Wir sind verloren - ich bring mich um!“

Eine Zeitlang herrscht Schweigen.
Verstohlen linst die Tüte zum Roboter hoch. Seine laserstrahlartigen Augen sind nur noch der matte Abglanz ihrer selbst. Es scheint zu Ende zu gehen mit ihm. Und mit ihr auch, wenn sie nicht aufpasst. Unterm Arsch brennt der glühend heiße Sand. Sie droht zu zerschmelzen.
„So steh doch auf und lass uns bitte weiter“, fleht sie den Roboter panisch an. Der aber scheint nicht zu hören und reagiert nicht.

Die Tüte beginnt zu beten.
„Was machst du, verdammt?“ Verwirrt schaut der Roboter zur Tüte hinunter.
„Ich bete.“
„Du betest? Ich glaub ich spinne. Zu wem denn bitte, wenn ich fragen darf?“
„Das ist doch völlig gleichgültig!“, entrüstet sich die Tüte. „Soll helfen – besonders in auswegloser Situation. Hab ich von einem Geistlichen gelernt, dem ich mal behilflich war, sein Gebetbuch zu transportieren. Wenn dir nichts mehr bleibt, dann bete, hat der einem Todkranken empfohlen und ihm die letzte Ölung erteilt. Ich war Augenzeuge!“
„Wird ja immer schöner!“, stöhnt der Roboter auf. „Eine Tüte bei der letzten Ölung, das ich nicht lache. Betest wohl zu deinem Gott Öl?“
„Wie?“ Konsterniert hält die Tüte inne und denkt nach.
„Hey, du stammst doch vom Öl ab. Weißt du das etwa nicht? ... Aber Moment mal, was ist das für ein Geräusch?“
Die Tüte lauscht. „Ich hör nichts!“, sagt sie verstört. „Fängst du jetzt etwa auch noch an zu halluzinieren?“

Mit letzter Kraft richtet sich der Roboter auf und schaut ins Weite. „Da, das Meer!“, brummt er und deutet mit dem Arm, an dem die Tüte hängt, ins Ungefähre.
Die Tüte schrickt auf. „Mein Gott, ja!“, ruft sie euphorisch.  „Das Meer! Wenn das nicht mal ein Zeichen ist?“
„Wieso?“
„Nun ja. Vielleicht ist es ja der einzige Ausweg, der mir bleibt?“
„Ach so?“, brummt der Roboter und scheint nicht zu verstehen.
„Bring mich rüber ans Ufer. Ich bitte dich!“, wimmert die Tüte herzerweichend.
„Was willst du da?“
„Zu meinen Brüdern und Schwestern will ich. Das ist der letzte Wunsch, den ich hab!“
„Dein letzter Wunsch?“

Die Tüte zögert und redet um den heißen Brei herum: „Mein Gott, wie soll ich’s sagen? Dir geht’s doch nicht so gut. Und bald hast du vielleicht auch nicht mehr die Kraft, mich da rüber zu bringen, wer weiß?“
„Ja, ja, verstehe!“ pfeift der Roboter aus dem letzten Loch, rappelt sich schwerfällig auf und setzt sich Richtung Meeresstrand durch den Sand schlürfend in Bewegung.
„Wie lieb von dir!“, raunt die Tüte.
„Keine Ursache!“, röchelt der Roboter. „Im Plastikmeer wird wenigstens einer von uns beiden überleben!“
„Wie tapfer du bist in deiner letzten Stunde!“, sagt die Tüte leise. „Ich hasse Abschiede, musst du wissen!“

„Ich auch!“, brummt der Roboter, dem kaum dass er den Strand erreicht hat die Kräfte versagen. Ächzend geht er zu Boden und schiebt die Tüte so weit er kann ins Wasser hinein.
„Machs gut, meine Liebe“, brummt er kaum vernehmbar, setzt sich unbeholfen auf und sieht der Tüte nach, die sich allmählich auf den Wellen tanzend von ihm entfernt. Die Strömung ist günstig - bald schon schwimmt sie weit draußen im Meer. 

Ein letztes Mal blickt sie sich um.
In der Ferne sieht sie den Roboter im Sand sitzen. Er winkt ihr mit einem Arm langsam zu.
GOODBYE JOHNY!“, glaubt sie ihn singen zu hören. Wahrscheinlich den einzigen Abschiedssong, den er gespeichert hat. Dann bleibt der Arm ruckartig stehen und die Maschine erstarrt.

ENDE