Peter Mussbach

Christl

Novelle in 13 Kapiteln

gelesen von Peter Mussbach

01

„Einsame Seelen sind klebrig“, murmelt sie, „die wird man so schnell nicht mehr los, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, so denken doch die Leute.“

02

„Warum nur ist mein ehemaliger Körper eigentlich nicht hinter mir her?“, hat sie sich gefragt.„Das wäre doch für beide leichter: Seele sucht Mensch ist pervers! Körper sucht Seele geht schon eher! Der muss doch auch das Gefühl haben, dass ihm etwas fehlt.“

03

„Wie wäre es mit einem Dirndl von Dolce & Gabbana, mein Herr, wir hätten da ein paar spritzige Nummern für Sie“,
sagt der Verkäufer augenzwinkernd und läuft aufgeregt durch die Kleiderständer vor ihr her wie ein besinnungsloser
Körper, der es dem anderen beweisen will.

04

Wenn es stimmt, dass unser erlebtes Ichgefühl eine Schöpfung unserer Hirnfunktionen ist und dass sich unsere subjektive Wirklichkeit bald immer genauer manipulieren lässt, dann wirft das die Frage auf: Gibt es überhaupt so etwas wie eine Seele?

05

Denn in Wahrheit ist an Hans SNOW PARADISE alles künstlich, und nichts natürlich. Ein artifizielles, sich in die Weiten des Hochgebirges verlierendes Winteridyll, das unter überdimensionierten, bis in schwindelerregende Höhen hinauf genial konstruierten Glaskuppeln perfekt geschützt, den Kunstwinter davor bewahren, von der brütenden Hitze draußen gefressen zu werden. „Genial“, ruft Christl, „ein veritables Winterparadies inmitten ausgedörrter Bergmassive, einfach genial!“

06

„Der will mich!“, denkt Christl. „Der will nicht nur das eine, was alle wollen. Der will mich, mit Haut und Haar, das sieht man!“

07

„Die Leute wollen Erfolgsformate, und die sind mein Metier“, ruft er ausgelassen und steuert seinen Porsche Cayenne elegant durch die S-Kurven hinunter der prickelnden Realität entgegen, ohne Hände am Steuer und praktisch nur mit seinen Gedanken. Christl glaubt nicht richtig zu sehen. Unterm Helm werden seine Hirnströme gemessen und als Kommandos an die Maschine weitergegeben, erklärt er. Der Chip macht’s möglich.

08

„Hoffentlich hat er sich nicht schon längst von mir entfremdet, der Körper. Oder ist schon viel zu geschwächt und nicht mehr so sicher auf den Beinen, um sich noch mal in Bewegung zu setzen. Oder, nicht auszudenken, ist schon eine halbe Seele, wie ich ein halber Körper.“

09 / 1

„Meinen Sie nicht, dass ich etwas fremd aussehe, Clara?“, fragt Christl die Maskenbildnerin. „Wie kommen Sie denn darauf, Amina?“, antwortet Clara professionell. „Sie sehen glänzend aus, und so schön ... wie ein lebendes Geheimnis, wirklich perfekt für die Show.“

09 / 2

„Lassen Sie mich zum Abschied Goethe zitieren“, sagt Christl in die unerträgliche Stille hinein, und kann sich ihrer Tränen kaum erwehren.

10

Nicht wenige Seelen bekunden, sich bislang nie an die Öffentlichkeit gewagt zu haben, weil sie fürchten, von anderen zunichte gemacht und für verrückt erklärt zu werden.

11

„Mumien sind Körper die nie aufgeben und unbeirrt nach ihrer Seele suchen – wenn es denn sein muss, auch lange über den Tod hinaus, Körper also mit schier unmenschlichem Mut sind sie, diese Mumien – aber wollen Sie mich nicht etwas Heitereres fragen?“

12 / 1

„Warum lädst du keine Seelen ein? Immer nur Körper in der Sendung, das wird auf Dauer langweilig. Du brauchst Erfahrungsaustausch mit deinen Schicksalsschwestern. Du weißt doch, dass du mit deinem Los nicht allein auf der Welt bist, denke doch nur an die tausende Briefe, die dir heimatlose Seelen geschrieben haben. Gib jetzt nicht auf, ich beschwöre dich! Hol dir Rat beianderen Seelen. Stell dir vor, es ginge mit dir zu Ende und du könntest deinen Körper nicht mehr finden, nur weil du mit anderen schon unter der Erde liegst.“

12 / 2

„Ich eine künstliche Seele aus der Retorte, das wollen wir doch mal sehen!“, lacht Christl ausgelassen, eingezwängt zwischen bierselig aufgeheizten und grölenden Körpern. Die Blaskapelle spielt auf. Und Christl trinkt und weint und lacht und trinkt.

13

„Ich eine künstliche Seele aus der Retorte, das wollen wir doch mal sehen!“, lacht Christl ausgelassen, eingezwängt zwischen bierselig aufgeheizten und grölenden Körpern. Die Blaskapelle spielt auf. Und Christl trinkt und weint und lacht und trinkt.