Peter Mussbach
DER RAUMLOSE RAUM
Ein Puzzle 1949 - 1968
eBook ca. 410 Seiten ISBN 978-3-7375-3772-8 März 2015
Peter Mussbach

DER RAUMLOSE RAUM

Ein Puzzle 1949 - 1968

COMING-OF-AGE: Der Roman erzählt die Geschichte eines Kindes und Jugendlichen von 0 - 18 Jahren. Und dies seinem Erleben entsprechend, das sich aus vielen Parallelwelten zusammensetzt. Und seiner Wahrnehmung gemäß, die keine Zwangsläufigkeit und Reihung kennt. Fantastisch und diskontinuierlich und erst am Ende chronologisch, wenn er erwachsen wird.

Kapitel für Kapitel hüpfen die Geschichten hin und her und schaffen Raum, dessen erfahrbare Ausdehnung sich im Grenzenlosen verliert. Sie beschreiben Zustände und Erlebnisse, die ohne Raster sind und ohne Zeitgitter: Kinder kennen keine Zeit, sie leben in der Gleichzeitigkeit und erleben jede neue Perspektive der Wirklichkeit als eine andere Welt: Wechselnde Identität – Außen und Innen oszillieren und geben ersten Erfahrungen besondere Plastizität und Poesie.

Der Reichtum unseres Lebens ist nicht geordnet. Vergangenheit und Zukunft sind eine Funktion: In dem, was war, gewinnt es Realität, in dem, was sein wird, Identität. Das Heute aber ist schon vorbei, bevor es angefangen hat. Was heißt hier jetzt.

Das Buch ist ein Puzzle, Puzzlesteine (Kaleidoskop!), dessen Bild sich vor dem Auge des Lesers allmählich zusammensetzt: Zu einer (inneren) Geschichte, mit Anfang und Ende, deren unterschiedlichste Aspekte die Offenheit und Zufälligkeit der Existenz betonen und nicht dessen scheinbare Stringenz: Zufall ist der beste Koch.

Die Geschichte spielt zwischen 1949 und 1968. Im Wohlstand und Wirtschaftswunder, das gerade sein böses Wunder erlebt. Die Ruhe vor dem Sturm.

Auszüge aus DER RAUMLOSE RAUM
Der Komet

Der Himmel will sich ihm um jeden Preis entziehen: Je schneller er rennt, je virtuoser er das Tempo wechselt und unvorhersehbare Haken schlägt, je überraschender er attackiert und wie aus dem Nichts nach oben hechtet, höllisch davon überzeugt, den Kometen endlich zu fangen, um ihn dann, glühend in seinen Händen, sofort wieder in den Himmel zurück zu schleudern wie bei einem irren Ballspiel mit der Ewigkeit, desto ruhiger und vollkommen unbeeindruckt dreht die Himmelsglocke wie von Geisterhand bewegt, immer in geschickter Distanz zu jeder seiner Bewegungen, die Achsen des Gewölbes von ihm weg und rückt den Kometen in unerreichbare Ferne, so dass er – letztlich nur noch ins Leere springend – zwangsläufig zu Boden stürzt.

Reglos liegt er im Wasser einer Sommerregenwiese, das noch aufgeregt kleine Wellen schlägt und spürt die Kälte schon zwischen der Haut. Mit dem treuesten Blick schaut er spielerisch um sich ins Dunkle wie ein Hund, hat ein nasses Fell, dumme Schuldgefühle im Bauch und zittert tierisch am ganzen Leib, als würde der Himmelskörper jeden Augenblick herabstürzen und Chaos anrichten. Der aber ist lange weg und nicht mehr zu sehen. Er richtet sich auf. Die Strahlen der zwischen den Bäumen aufgehenden Sonne fangen seinen Blick und Körper. Das Flimmern im Auge, das sie in ihm provozieren, das Glitzern um ihn herum, verwirrt ihn. Hat ersich zu allem Überfluss am Kopf verletzt. SiehterSterne?

Eine Weile hockt er mit angezogenen Beinen, welche seine Arme fest umschlungen halten, im Ungefähren und blinzelt erwartungsvoll ins Weite. Es ist still. Still! Er hat sein Gehör verloren. Die Resonanz seines Herzschlags schwingt in jeder seiner Adern, während die auf seiner bloßen Haut prickelnde Wärme der vor ihm aufgehenden Sonne eine unvermutete, nie gehörte Musik in jeder seiner Zellen provoziert – innen und außen im Einklang.

Der Überraschungsbusch

Herr Holzer und seine Frau sind ein trautes Paar. Beide sind sie seit etwa vierzig Jahren verheiratet und gehen noch immer liebevoll miteinander um, in der Öffentlichkeit zumindest.

Morgens schon sind sie gemeinsam auf dem Markt, so Holzer frei hat, und kaufen frisches Obst, Gemüse und Salat aus der Region, wobei sie unangestrengt mit den Leuten, denen sie zufälligerweise begegnen und die sie nur flüchtig kennen, regen Austausch pflegen. Denn Frau Holzer ist neugierig und will alles wissen.

Frau Holzer heißt Ilse mit Vornamen, er nennt sie „Ilsebill“ und denkt dabei nicht an Märchen, sondern meint es eher neutral. Sie ist adrett, schmallippig und immer besonders unauffällig gekleidet, als hätte sie etwas zu verbergen. Manchmal bekommt sie glühende Augen, was nicht weiter verwundert, denn sie scheint in ihren Mann noch immer verliebt zu sein, was zwar jeden in der Stadt erstaunt, zugleich aber hinter vorgehaltener Hand durchaus respektvoll kommentiert wird.

Keiner ahnt jedoch, dass Frau Holzer Angst hat, Angst um ihren Mann und vor allem panische Angst um sich selbst. Deshalb durchdringt sie die Leute in brisanten Augenblicken mit ihrem Röntgenblick, dann nämlich, wenn sie den Eindruck hat, sie wüssten etwas von ihr.

Das Ehepaar lebt zurückgezogen, man hat kaum Kontakt, weder miteinander noch mit anderen. Die Liebe ist nur gespielt, denn in Wahrheit verbindet sie – auf Gedeih und Verderb – die Symbiose eines gemeinsamenGeheimnisses.

Holzer ist Lehrer an der Volksschule der Stadt, und seine Frau Hausfrau. Er verdient so gut, dass sie rund um die Uhr für ihn sorgen kann. Nach seinem Mittagsschlaf zum Beispiel, wenn er noch etwas verwirrt gerade seine Traumgeister losgeworden ist und Schulhefte korrigieren muss, serviert sie ihm wortlos seinen Beruhigungstee von der Apotheke gegenüber, ohne den er nicht lange durchhält. Dann aber – auf dem Weg zurück in die Küche, bleibt sie in seinem Rücken stehen, wendet sich 6 gespenstisch lautlos zu ihm hin und betrachtet mit skeptischen Augen seine gebrechliche Gestalt, was Holzer bemerkt, ohne darauf zu reagieren.

„Noch drei Jahre bis zur Pension, dann ziehen wir weit weg und sind endlich in Sicherheit, denn dort kennt uns keiner, wir schaffen es schon“, sagt sie und schenkt Holzer, der mit seinem Schlagflussgesicht über den Heften kauert und an schwerem Herzasthma leidet, über seinen Rücken hinweg noch etwas mehr Sahne in den Tee, denn Holzer liebt den Tee „trüb“, wie er betont. – „Milchig“, erwidert sie dann von der Küche aus, weil sie noch immer an Geschlechtsverkehr denken muss.

„Ein Apfel von hier und ich bin glücklich“, flüstert sie ihrem Mann morgens auf dem Marktplatz zu, indem sie ihn auch noch demonstrativ auf seine fahle Backe küsst, damit es der Gemüsehändler deutlich hört und sieht. „Darf es sonst noch etwas sein?“, fragt der Gemüsemann zu Boden blickend, „nein danke“, antwortet Ilsebill, „ich glaube für heute reicht es“, und ist froh, dass sie nicht mehr heile Weltspielen muss. Als sie aber überraschend von hinten angesprochen wird, „ach Frau Holzer, ich habe sie gar nicht erkannt, wie geht es Ihnen?“, hält sie sich wie ertappt an ihrem Mann fest und drängt unter einem Vorwand flach atmend nach Hause.

Auf dem Weg vom Markt zurück in die sichere Wohnung hält Holzers Frau plötzlich inne und bleibt stehen, als hätte sie ein Deja-vu-Erlebnis.Augenblicklich zieht sie Holzer irritiert einige Schritte zurück zu einem gerade neu bepflanzten Zierkübel der Stadtgärtnerei. „Seltsam“, entfährt es ihr, „das ist doch unser Busch, den sie da eingepflanzt haben, oder etwa nicht – Holzer, was denkst du?!“ „Wo willst du hin?“, antwortet Holzer entgeistert, „was willst du damit sagen, der sieht nur so aus wie unser Lorbeer, wie soll der denn bitte hierhergekommen sein!“ „Ja doch, natürlich mein Lieber, wie sollte der wohl hierhergekommen sein?“, lächelt sie gequält, während sie sich mit glühenden Augen hastig überall hin umblickt, als wäre etwas im Busch.

Als beide mit ihren vollgepackten Korbtaschen endlich die Vorstadt erreicht haben, wo sie gleich nach dem Krieg eine geeignete Wohnung fanden – „lieber nicht im Zentrum wohnen und dafür eben länger laufen“, sagt sie immer – bleibt nun seinerseits Holzer stehen, senkt konsterniert 7 den kahlen, von Furchen durchzogenen Schädel und blinzelt ungläubig über den schmalen Brillenrand hinweg vor sich hin.

„Was hast Du Holzer?“, fragt Frau Holzer, „ist es wieder das Herz, brauchst du eine Tablette?“ – „Nein“, sagt Holzer und deutet zittrig vor sich hin, „da, unser Busch, dort, schon wieder!“ „Nun hör auf damit“, sagt seine Frau, „du siehst schon Gespenster“ – wendet sich um und erstarrt wie Lots Weib.

„Siehst du, da, rechts oben, da habe ich gestern den falschen Trieb abgebrochen, ich hatte die Gartenschere nicht griffbereit, das grüne Holz, es war nicht leicht zu brechen“, flüstert Ilsebill ihrem herzkranken Mann zu, wobei sie sich fadenscheinig auf seine Schultern stützt und so tut, als hätte sie einen Stein im Schuh und könne nicht weiter. – „Das kann nicht wahr sein“, sagt Holzer, „unser Busch schon wieder in einem anderen Kübel der Stadtgärtnerei, jetzt hier und gerade noch dort“, Holzer wendet sich abrupt um und deutet ungelenk zurück, „gerade soll er noch hier gewesen sein und dann auch noch dort?“

Der Lehrer, der seine Frau stützt und sich mit der anderen Hand am Busch festhält, verliert das Gleichgewicht und hat plötzlich seinen Lorbeerbusch in den Fingern, stürzt über die Frau zu Boden, wobei er reflexartig mit letzter Kraft das Grün in hohem Bogen von sich wegzuwerfen versucht, als wäre das Gewächs ein Indiz!

Sie sind entdeckt und jemand ist hinter ihnen her, denken beide, ohne es zu sagen und erreichen – von Seelenlärm gebeutelt und getrieben – endlich ihr Heim: Sie straucheln, wie vom Schlag getroffen, als hätte ein Blitz sie erschlagen: Im Vorgarten steht der Lorbeerbusch, als wäre er schneller als sie, oder aber gar nichts gewesen! Wie sie in ihre Wohnung kommen, daran können sich der Lehrer und seine Frau nicht mehr erinnern. Um den Busch jedenfalls haben sie einen großen Bogen gemacht, dass weiß Holzer noch genau. Die Wohnungstür ist von innen verriegelt, in der Stadt werden sie erst einmal nicht mehr gesehen: Frau Holzer und ihr Mann haben sich verbarrikadiert.

Stundenlang steht Ilse wachsstarr hinterm Fenstervorhang versteckt, blickt mit zusammengekniffenen Röntgenaugen skeptisch nach unten in den Vorgarten und mustert den Lorbeerbusch, bis der nach einigen Tagen mitten im Frühling die ersten gelben Blätter bekommt. „Irgendjemand hat irgendeinem etwas gesteckt“, schreit sie durch die Wohnung, „wir müssen weg, Holzer, sofort, nimm den gepackten Koffer, Holzer, hörst du, die haben den Busch abgesägt und wieder rein gesteckt, Holzer, die wollen uns fertig machen!“

Ein paar Tage später ist Holzer nicht mehr ihr Lehrer, so wird ihnen morgens vom Rektor mitgeteilt: Beide, Holzer und seine Frau hätten sich selbst angezeigt. Ilse Holzer habe mehr mit dem Dritten Reich zu tun, als man dachte, sagt der Rektor; morgen sei wieder Unterricht, beim neuen Lehrer natürlich und heute frei!

Draußen, vor dem Schulgebäude stehen sie noch eine Weile zusammen, Christian, er und der Kleine, die alles angezettelt haben, nur um dem Lehrer eins auszuwischen, weil der mit seinem Geigenbogen, mit dem er gerade noch schöne Lieder aus seiner Kriegsvergangenheit gespielt und sie dazu hat singen lassen, so unvermittelt wie gemein auf die Finger der Kinder schlägt, dass manchmal sogar Blut spritzt und keiner den Grund weiß.

„Sie hat offenbar ganz schön Dreck am Stecken“, sagt ein Pimpf, der gerade mit seinem Freund an ihnen vorbei nach Hause geht, „sie soll KZ-Aufseherin gewesen sein, das jedenfalls habe ich gestern meinen Vater zu meiner Mutter sagen hören!“

Ilse Holzer, was für ein Zufall, die hatten sie doch gar nicht gemeint! – „KZ“– weißt du, was das bedeutet?“, fragt er Benjamin, der aufrichtig den Kopf schüttelt: „Woher soll ich das nun wieder her wissen, wenn mir keiner etwas erzählt!“

„Na, sei‘s drum“, sagt Christian, „wir bleiben in jedem Fall zusammen, wir und unsere Bande, das ist doch wohl klar!“ Der Kleine nickt begeistert, weicht aber zurück, weil Christian seinen Körper so stürmisch umarmt, als wolle er einen Buschaufreißen.

Himmelsmalerei

Er ist satt; so gut hat er noch nie gegessen! Das sagt er sich jedes Mal, wenn er in seinem Schloss zu Besuch ist und dieses Mal noch besser gegessen hat als bei jedem seiner Besuche zuvor: „Die Küche übertrifft sich selbst und das Schloss sich ohnehin.“ Er lächelt selig und kratzt sich stolz am Kopf: „Mein Schloss ist unvorstellbar!“

Wie oft er in all den Jahren schon sein Schloss aufgesucht hat, das weiß er nicht: Das merkt er sich nicht, er ist nicht zwanghaft und zählt Zahlen. Jeder Besuch in seinem Überraschungsschloss ist wie keiner zuvor: Mit seinen nun sechzehn Jahren müsste er eigentlich behaupten dürfen, sein Schloss zu kennen, die unzähligen Male, die er schon hier gewesen ist.

Das aber scheint ihm unmöglich, denn das unfassbare Bauwerkändert seine Architektur beständig, immer wird irgendwo angebaut, umgebaut, verschönert, renoviert oder erweitert; und manchmal – vollkommen überraschend und abenteuerlich – findet er sich sogar in einem neuen Schlossflügel wieder. Im Grunde glaubt er mittlerweile daran, dass das Schloss mit ihm wächst und ihm – je nach Befindlichkeit und Herzensverfassung – nur jene Welten offenbart, zu welchen er wirklich bereit ist: Ein Idealschloss!
Wie immer vor dem Zu-Bett-Gehen, vertritt er sich auch heute nach einem ausgiebigen Abendessen noch etwas die Beine, um die neu entstandenen Anbauten und Veränderungen zu begutachten, welche ausschließlich während seiner Abwesenheit getätigt werden, von unsichtbaren Händen nämlich, die seine überraschenden Besuche für ihn so angenehm wie möglich gestalten wollen.

Er tigert durch die von den einfallsreichsten Lichtkünstlern in immer wieder neue, ungeahnte Atmosphären getauchten Flure, Zimmer, Gänge, Hallen und Säle, die er schon zu kennen glaubt, über weitläufige, sanft geschwungene Treppenlandschaften hinweg nach oben und immer weiter durch Hallen, Gänge, Säle, Flure und Zimmer hindurch, an die er sich so recht nicht mehr erinnern kann. Schließlich ist er vollkommen erschöpft und außer Atem unter dem Dach des Schlosses angekommen: Hier war er noch nie, darauf kann er schwören. Er hat sich verlaufen!

Gleichsam über dem ganzen Schlosse schwebend, findet er sich in einem Raum, ja einer Halle wieder, welche an Ausmaß, Weite, Großzügigkeit, ja Luftigkeit alle Räumlichkeiten übertrifft, die er bislang in seinem Schloss vorfinden durfte. Die wahnwitzigen Dimensionen des Saales kann er aufgrund des changierenden Dämmerlichts nur erahnen. Die Wände, sämtlich fensterlos, glitzern im hellsten Weiß und entziehen sich dem Blick in ein flirrendes, undefinierbares Nichts hinauf.

Lange starrt er nach oben und sieht nichts. Dann sieht er den Himmel und denkt an ein Deckengemälde. Plötzlich entdeckt er, dass der Himmel nicht gemalt ist, sondern wirklich der Himmel ist: Über der Halle schwebt die zarte Abenddämmerung und lässt ihre in abwegige Pastelltöne getränkten Wolkenlandschaften über ihm vorüberziehen als sei drunten Jahrmarkt, wo man besonders luftige Luftballone, in dichten Haufen oder auch vereinzelt, in die Luft steigen lässt.

Jetzt erst bemerkt er ein sanft anschwellendes Pochen und Trommeln, das sich wie Regen anhört, welcher nun auch deutlich sichtbar mit Myriaden winziger funkelnder Tropfen auf ihn herabzuregnen beginnt, so dass er unwillkürlich ins Trockene flüchten will. Kaum ist er losgelaufen, verwandelt sich das Trommelpochen,unmerklich zunächst, in den tiefen, alles in Schwingung versetzenden Gong, welcher zum Abendessen einlädt. Irritiert bleibt er stehen. Täuscht er sich, oder gibt es heute mitten in der Nacht eine Gulaschsuppe? Er denkt nach: „Nein“, sagt er sich, „nein, heute ist kein Feiertag!“ Gespannt wartet er ab, „er täuscht sich nicht, gleich muss „Wir bitten, Platz zu nehmen“ kommen.

Ungläubig blickt er nach oben: Sein Blick verschwimmt unter Tränen und der Abendhimmel hat alle Kontur verloren. Jetzt erst sieht er die ungeheure Glasdecke, welche als Wunderkonstruktion über der Halle schwebt und, in sanfte Schwingung versetzt, mit dem Vibrieren eines riesigen Gongs verwechselt werden kann: Der Sommerguss regnet auf das Glasdach wie einen Resonanzboden herab, und die Wasser, welche in ruhiger Strömung hoch oben über das unendlich weit gespannte Glas fließen, verwandelndas Bild vom Abendhimmel in ein Aquarell, als hätte es ein Maler aus der Mongolei mit besonders weichen Pinseln hingetupft: Zum Malenschön!

Alles liegt griffbereit! Warum hatte er die zahlreichen Pinsel, Farbtöpfe und Farbtuben in ihren Regalen, die Terpentinflaschen und Eimer auf dem Boden und all die Bretter, Stützen und Zwingen für das Malergestell nicht vorher bemerkt? „Wo ich auch manchmal meine Augen habe!“, sagt er sich, lacht schallend auf und kann sich im zigfachen Echo der riesigen Halle, welche natürlich nur das Schlossatelier sein kann, eine Weile lang weiterlachen hören: „Nicht allein! ... allein! ... allein! ... allein!“ Unverzüglich an die Arbeit. Noch ist es hell!

In Windeseile hat er das Gerüst zusammengebaut, ein Bündel Pinsel in der linken Hand, die auch die Palette hält, welche die Form seines „Himmelspuzzlestein“ besitzt, nur viel größer ist und viel mehr Fläche bietet, so dass alle Farben, die er am Rande des Holzbretts reihum in dicken Schlangenhaufen aus den Tuben gedrückt oder als schillernde Farbinseln den Töpfen entnommen hat, genügend Platz finden, um in der Mitte gemischt zu werden.

Wie ein fernöstlicher Maler sitzt er auf seinem Gerüst unter der Glasdecke und malt mit baumelnden Beinen in luftiger Höhe nicht in italienischer Manier ein Fresco auf die sich verführerisch zur Glaskuppel wölbende Decke, sondern den Abendhimmel buddhistisch: Der leuchtet nach dem vorübergezogenen Gewitter jetzt wieder glasklar vor seinen Augen; und was er durchs Glas hindurch weit oben als Bild sieht, malt er direkt vor seiner Nase aufs Glas, das ihm als durchscheinende Leinwand die Formen und Farben ganz natürlich in der Luft auftragen lässt.

Das Bild aber ist kein Bild! Es verändert sich, beinahe unmerklich zwar, aber dennoch kontinuierlich, denn der Tag geht zur Neige und langsam wird es dunkel. Wie ein malender Derwisch springt, hüpft und hastet er auf seinem Gerüst in schwindelnder Höhe unter der schwebenden Glasdecke hin und her, ohne auch nur einen Moment lang zu straucheln und versucht jede Bewegung, welche sich ihm im weiten Abendhimmel offenbart, unten sofort auf seinem entsprechend sich verändernden Deckenglasgemälde beinahe zeitgleich festzuhalten, um schon im nächsten Moment an ganz anderer Stelle wieder angleichen oder korrigieren zu müssen, damit die Realität dessen, was sich draußen am Himmel zeigt, unten auf seinem Bild Wirklichkeit wird: „Ein Chamäleongemälde“, ruft er 12 ekstatisch, „ein Gleichzeitigkeitsgemälde“ und verliert sich im tausendfachen Echo der Halle, welche ihn begeistert anfeuert.

Ohne es recht bemerkt haben zu wollen, ist es dunkel geworden. Wohlig erschöpft hockt er weit oben in der Luft und ist glücklich, sein Gemälde noch mit der Nacht fertig bekommen zu haben. Als er prüfend aufschaut, ist die Glasdecke schwarz wie die Finsternis über ihr. Er hat sein Bild schwarz übermalt! Er erschrickt und sinnt nach: „Nein, was heißt hier „übermalt“; draußen ist schwarze Nacht, also ist das Bild auch schwarz.“ Morgen früh, bei Sonnenaufgang kann er es ja wieder zurückmalen, dann ist es schnell wieder hell.

Drunten wird eine Kerze angezündet und er droben kann unten niemanden erkennen. Lediglich das Streichholz sieht er noch einen Augenblick lang in der Luft flackern, bevor es hin und her wirbelt, als hätte sich jemand die Finger verbrannt. „Hier also finden wir dich endlich wieder, wir haben uns schon Sorgen gemacht um dich, es kann einem ja angst und bange werden, wie du da oben herumturnst und Bilder malst. Komm runter, lass uns anschauen, wie das Bild von unten aussieht, das du gemalt hast. Von hier unten nämlich ist nicht viel zu erkennen, aber du kannst uns ja sicher erklären, was du da gemalt hast. Mein Freund war so neugierig auf dein Schloss, er wollte es unbedingt einmal richtig sehen, du hast doch sicher nichts dagegen?“ „Nein! – Iihwo! – Wer seid ihr denn? – Wartet einen Moment! – Ich komme runter!“

Unten ist niemand. Die Kerze brennt noch. Daneben liegt ein Zettel mit Krakelschrift, welcher ihm mit krummen Pfeilen auf dem Lageplan des Schlosses den Weg zurück ins Schlafzimmer zeigt: „Für alle Fälle, damit du dich nicht verläufst. Bis bald!“ – „Das können nur die Zwillinge gewesen sein“, denkt er und geht mit dem Zettel in der Hand nach unten ins Badezimmer. – „Die Zwillinge! Wir bitten Platz zu nehmen! – Wir! Die mit ihren Schwalbenstimmen!“ Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen, warum ist er nicht gleich drauf gekommen: „Die Zwillinge, natürlich!“

Er lacht und lacht und schläft lachend ein. Zuvor aber schreibt er in seiner Bibliothek noch einen Brief an Onkel Kurt, den er lange nicht mehr gesehen hat, weil der in Amerika ist.

 

 

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