KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

DAS ENDE? / TEIL 1
17. Juli 2017

Der Homo Sapiens hat den Glauben an sich verloren – die Dinge entgleiten ihm. Nach seinem in der Evolutionsgeschichte allen irdischen Lebens wohl einzigartigen Siegeszug rund um den Globus, den er sich binnen 10.000 Jahren – ein Wimperschlag im Vergleich zur Erdgeschichte – untertan machte und sich selbst die Krone der Schöpfung aufs Haupt setzte, schlottern ihm auf einmal die Knie. Selbstzweifel zernagen ihn. Sein Selbstverständnis gerät ins Wanken. Schon werden Unkenrufe laut, die ihm und seiner Art ein baldiges Ende prophezeien.

Solch ein Schicksal könnte den Menschen bereits 2050 ereilt haben, mutmaßt Jeff Nesbitt, der ehemalige Leiter für Rechts- und Öffentlichkeitsangelegenheiten der National Science Foundation, und warnt, wie unter anderen auch der KI-Pionier Stuart Russel von der Universität Berkeley, ausdrücklich vor den Folgen einer außer Kontrolle geratenen KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ, die sich zu einem Supercomputer weiterentwickeln könne, der, dem menschlichen Verstand weit überlegen, als Superintelligenz alle Probleme völlig autonom lösen und den Menschen letztlich überflüssig machen werde.

Düstere, nicht selten von Weltuntergangsphantasien begleitete Warnungen vor Maschinen sind in der jüngeren Geschichte des Menschen wahrlich nicht neu: mit jeder die Lebensbedingungen von Grund auf verändernden technischen Innovation oder gar Revolution gingen beileibe nicht nur Jubel, sondern immer auch tiefes Misstrauen und abgründige Ängste einher. Heutzutage mag es vielleicht amüsieren, in Hans Christian Andersens En Digters Bazar (1842) von dessen Eisenbahnfieber zu lesen, das den Autor auf einer Zugfahrt von Magdeburg nach Leipzig ereilte. Der Geschwindigkeitsrausch und die damit verbundene Verschiebung der Raumwahrnehmung raubten ihm förmlich die Sinne. Jahre früher schon hatte ein Geistlicher aus dem Mittelfränkischen gegen die erste deutsche Eisenbahn gewettert, die ab 1835 zwischen Nürnberg und Fürth unterwegs war. Die Maschine sei ein Teufelsding, ereiferte sich der Geistliche von der Kanzel herab, die Menschheit werde die höllische Erfindung büßen: Der Qualm vergifte Fahrgäste und grasendes Vieh. Der Fahrtwind führe zu Lungenentzündungen, und das rasante Tempo unweigerlich zur Gehirnverwirrung. Es dauerte nicht lange, dann war das Eisenbahnfieber eine ärztliche Diagnose, und die Krankheit, das Delirium furiosum, die böse Folge einer menschenfeindlichen Technik.

Episoden dieserart könnte man rasch als „verschroben“ abtun oder in der Schublade „Neurasthenie“ ablegen, verrieten sie nicht Grundsätzliches über das Verhältnis des Menschen zur Maschine, die er seinerseits immer auch mit gemischten Gefühlen wahrgenommen hatte. Maschinen sind dazu da, das Leben zu erleichtern. Und es angenehmer zu machen und – wenn möglich – stetig zu perfektionieren. Die Dampfmaschine aber hatte ihren Eigenlauf. Bald schon diktierte sie den Lebensrhythmus der Menschen (MODERN TIMES – CHAPLIN) und stellte die Gesellschaft auf den Kopf: Aus einer ständischen, auf Handel beruhenden Gesellschaft wurde im Handumdrehen eine Klassengesellschaft aus Kapitalisten und Lohnarbeitern. Das aber war denjenigen, die am Ruder saßen völlig egal – der Umsatz musste stimmen. Die Konsequenzen waren immens: Der Mensch hatte seine Arbeit aus den Händen gegeben und den Maschinen überlassen. Die Industrielle Revolution hatte begonnen und nahm ihren Lauf.

Man muss keine große Phantasie entwickeln, um sich vorzustellen, dass die auf Schienen dahindonnernde Dampfmaschine auf viele Zeitgenossen furchteinflößend gewirkt haben muss. Ihr monströser Eindruck war so verstörend, dass selbst Pferde scheuten und Passanten bei ihrem bloßen Anblick erstarrten. Und natürlich war die Maschine viel zu schnell. An ein Tempo von 40 km/h – heute eine Lächerlichkeit – waren die Menschen damals einfach nicht gewöhnt – ihr Gehirn war von dieser Geschwindigkeit schlichtweg überfordert. Es konnte die völlig ungewohnt auf es einstürzenden Impulse so auf die Schnelle einfach nicht sinnvoll verarbeiten. Statt den Fahrgästen Orientierung und Stabilität zu verleihen (was immerhin mit zu seinen primären Aufgaben zählt), produzierte es nur Schwindel und Erbrechen – das Gehirn hatte das Eisenbahnfieber ereilt.

Das soll heutzutage vielen Gehirnen mit der VR-Brille nicht viel anders ergehen: denen wird ebenso übel und schwindlig, wenn sich die User mit der Spaßbrille vor Augen urplötzlich im virtuellen Raum wiederfinden und ihr Gehirn aufgrund der bizarren Raumdimensionen außer Kontrolle gerät –  erfasst von einer Art Elektronikfieber, dem Eisenbahnfieber nicht ganz unähnlich.

Das Gehirn ist ein faules Organ. Neurowissenschaftler werfen ihm sogar vor, mit dem einen oder anderen Reaktionsmuster noch in der Steinzeit festzustecken. Vornehm ausgedrückt arbeitet das Gehirn ökonomisch, wie es so schön heißt, stützt sich am Liebsten auf klassische Denkschubladen und bevorzugt im Wesentlichen Erfahrung – Routine und bekannte Wege. Seine dabei nun wirklich nicht unkomplizierte Aufgabe besteht auf der Reduktion von Komplexität, sonst würde der Mensch durchdrehen und wäre nicht überlebensfähig. Pro Sekunde prallen ca. 11 Millionen Sinneseindrücke auf das Gehirn ein. Und davon nimmt es glücklicherweise nur 40 bewusst wahr – ein Schutzmechanismus der vitale Gründe hat: Stabilität und Orientierung lautet die Devise. Deshalb überrascht es auch nicht, wenn Maschinen, die das Gehirn urplötzlich in völlig ungewohnte Dimensionen katapultieren, dieses erst einmal kapitulieren lässt. Ein Gehirn wohlgemerkt, das sich diese Maschinen selbst ausgedacht hatte.

Aber zurück zur Eisenbahn, die im Grunde nichts anderes als die konsequente Weiterentwicklung der Dampfmaschinen war, die in eigens für sie aus dem Boden gestampften Fabriken massenhaft Ware produzierten, die an den Mann gebracht werden musste. Markterweiterung um jeden Preis lautete die Devise der Industriellen Revolution, die von Großbritannien ihren Ausgang nahm. Also begann man die bis dahin schier unüberwindbaren Unwegsamkeiten des Raums mit Schienensträngen zu überwinden. Die RAILWAY MANIA setzte ein: Eine globale „Verkehrsrevolution“ (Hans Rosenberg), mit der sich der Mensch die Erde ein zweites Mal unterwarf. Diesmal aber nicht neugierig auf die Welt und von Erkundungsdrang vorangetrieben wie in grauer Vorzeit, sondern einzig allein aus ökonomisch-strategischen Gründen. Mit der zweiten, der technisch-maschinellen Inbesitznahme der Erde war der moderne Kapitalismus geboren. Besessen von der Idee, den Widrigkeiten der Natur zu widerstehen und deren Kräfte und Ressourcen zu kapitalisieren. Der besinnungslose Raubbau an der Natur hatte begonnen und nahm seinen kompromisslosen, aber auch fatalen Verlauf, wie wir heute wissen. Der Geldrausch verblende die Hirne – die Weichen waren gestellt.

Bald geriert auch die Eisenbahn in den Strudel des explodierenden Kapitals und wurde rasch zum beliebtesten Spekulationsobjekt. Ein in der Wirtschaftsgeschichte bislang nicht gekanntes Spekulationsfieber ergriff die Agenten einer aus den Fugen geratenen Ökonomie und generierte völlig neue Kapitalbeschaffungsmethoden: Fonds und öffentliche Anleihen zum Beispiel. Der Aktienhandel trieb horrende Blüten und die Börse stand Kopf. Bis die Blase schon 1857 platzte und die erste Weltwirtschaftskrise heraufbeschwor. Ausgelöst von Edward Ludlow, einem einzelnen Mann, der den noch blutjungen Kapitalismus kollabieren ließ. Er war ein einfacher Angestellter im New Yorker Büro der angesehenen Bank Ohio Life Insurance and Trust Company, die Unsummen am Eisenbahnboom verdiente. Und Ludlow zockte mit Eisenbahnaktien, lieh sich heimlich bei anderen Banken Geld und wurde immer maßloser, bis er schlagartig alles verlor und damit auch die Bank mit in den Abgrund stürzte. „Ich habe die unangenehme Pflicht bekanntzugeben, dass diese Gesellschaft ihre Zahlungen eingestellt hat“, teilte der Präsident der Ohio Life, Charles Stetson, am 24. August 1857 lapidar mit und generierte Millionen Arbeitslose.

Die Industrielle Revolution – welch ein absurder Begriff. Verkehrt er doch die Dinge und dichtet dem 19. Jahrhundert eine Revolution der Maschinen an. Eine Bewegung, zu der eigentlich nur Menschen fähig sind: Maschinen haben keine Beine und können nicht auf die Barrikaden gehen! Und dennoch, dieser bizarre Anthropomorphismus verdankt sich tatsächlich einer Revolution – der Französischen von 1789 nämlich. Adolphe Jerome Blanqui hat ihn knapp fünfzig Jahre später in die Welt gesetzt: „Kaum dem Gehirn der beiden genialen Männer Watt und Arkwright entsprossen, nahm die industrielle Revolution von England Besitz“, schrieb er. Kaum dem menschlichen Gehirn entsprungen, unterjochten die Maschinen den Menschen als besäßen sie ein Eigenleben, lautet er im Klartext. Die Szenerie weckt böse Phantasien und erinnert an Fritz Langs Film Metropolis aus dem Jahre 1927: In diesem malochen Arbeiter in einer Fabrikhalle der Unterstadt roboterartig an einer monströsen Maschine, die durch den Bedienungsfehler eines völlig entkräfteten Arbeiters außer Kontrolle gerät, sich unversehens in einen Moloch verwandelt und die Arbeiter mit weit aufgerissenem Maul kurzerhand auffrisst und sie so zu Opfern des Maschinenzeitalters werden lässt. Einer Epoche, „die wohl wie keine andere im Leben der Menschen so fundamental gewesen ist“, wie Eric Hobsbawm in „Das lange 19. Jahrhundert“ anmerkt. Weder der Ackerbau, oder die Entdeckung der Metalle, noch die Siedlungen in der Jungsteinzeit seien mit dieser Epoche vergleichbar.

Das Bild von der Menschen fressenden Maschine kommt nicht von ungefähr. Schließlich hatte der aufkeimende Kapitalismus die Gesellschaft binnen kurzem durcheinandergewirbelt und sich eine neue soziale Klasse geschaffen – das Proletariat, den Arbeiter an der Maschine. Jetzt bestimmte die Maschine den Lebensrhythmus der Masse, schließlich wollten die Maschinen bedient sein. Der Mensch war zur Ware geworden, reduziert auf seine Arbeitskraft, die er zu verkaufen hatte, wenn er überleben wollte.

Die Rechnung ging auf: In Großbritannien, dem Heimatland des modernen Kapitalismus, lag die Wachstumsrate der Wirtschaft Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise bei 17 Prozent. Jeder lechzte nach Beschäftigung, denn Arbeitslosigkeit hieß nacktes Elend. Und auf der Straße standen genug Menschen bereit, noch länger und für noch weniger Geld zu schuften – die industrielle Reservearmee, wie Karl Marx sie nannte. Und dennoch: Trotz des schwindelerregenden Aufschwungs kam bald die nächste große Krise – die Weltwirtschaftskrise 1873. Ausgelöst von einer Überproduktion der Industrie und der Spekulation mit Aktien, ein damals völlig neues Geschäft. Streiks und Unruhen nehmen zu. Kein Wunder, dass man jetzt das Proletariat mit ganz anderen Augen betrachtet und in ihm eine Gefahr für soziale und politische Stabilität zu erkennen glaubt. Und in Deutschland wird nach einem Sündenbock für die anhaltende Stagnation gefahndet und findet ihn prompt beim „jüdischen Wucherer“ oder „Halsabschneider“. Der Historiker Heinrich von Treitschke bringt es 1879 auf den Punkt: „Die Juden sind unser Unglück.“ Mit der Dritten Weltwirtschaftskrise 1929 ist deren Schicksal in Europa endgültig besiegelt: Als die Weimarer Republik nach dem Börsencrash in den USA die aufgrund des verlorenen 1. Weltkriegs gestellten Reparationsforderungen an die Siegermächte nicht mehr berappen kann, die sich bis dahin vor allem durch amerikanische Anleihen finanzierten, werden Lohnsenkungen und Sozialabbau fällig. Hunger und Not zwingen die Bevölkerung in die Knie und soziale Unruhen brechen aus. 1933 steigt die Arbeitslosenzahl auf fast neun Millionen und Adolf Hitler erringt die Macht.

Heutzutage geht es dem Menschen wahrlich besser, zumindest in der westlichen Hemisphäre. Das Leben scheint zivilisierter und viele, die früher nur davon träumen konnten, genießen heute den Wohlstand und frönen dem Konsum. Selbst die Maschinen haben ihren bedrohlichen Charakter verloren und arbeiten jetzt selbstständig und vollautomatisch in den verwaisenden Fabriken. Endlich hat sich der Mensch der schweißtreibenden und Kräfte verzehrenden Maloche entledigt und offenbar auch dazu gelernt. Denn nun hat er Maschinen, die ihm sogar zur Seite stehen und ihn – gleichsam auf Augenhöhe – rund um die Uhr umsorgen. Wie echte Kumpels, die ihm all das bieten, wonach ihm gerade so der Sinn steht, liefern sie ihm die Welt frei Haus und lassen ihn am Leben draußen in all seinen Facetten teilnehmen. Dies allerdings nicht real, sondern virtuell. Und dennoch, der Mensch ist süchtig nach dieser Maschine.

Und sein Gehirn erst recht: denn es liebt das Virtuelle, schließlich arbeitet es ja selbst auf diese Art und Weise. Der Modus, in dem es dem Menschen die Welt vor Augen führt, ist beispielsweise alles andere als objektiv, denn der Mensch sieht beileibe nicht das, was ist, er sieht, was er sehen soll. Die Lichtimpulse, die auf die Netzhaut treffen, werden in elektrische Impulse umgewandelt und müssen erst einmal etliche Kontrollinstanzen durchlaufen, bevor sie zu den Bildern werden, die der Mensch in seinem Heimkino zu Gesicht bekommt. Dieses Areal liegt bezeichnenderweise im Hinterlappen des Gehirns und beweist allein schon anatomisch dass der Mensch nicht unmittelbar mit seinen Augen sieht. Schließlich soll das zensierte Bild seinem jeweiligen Naturell entsprechen, abgeglichen mit dessen bereits abgespeicherten Erfahrungen, Gefühlen, Vorlieben oder Abneigungen. Nähme der Mensch seine Umgebung ungefiltert war, könnte er gleich in die Klapsmühle abwandern. In diesem Sinne wandelt der Mensch von Anfang an durchs Virtuelle. Und das Gefühl, dass dem so ist, hat ihn schon immer umgetrieben – seine Philosophie legt davon ein beredtes Zeugnis ab.

Bilder jedoch, die genuin virtuell sind, also von vorneherein gestanzt, werden vom Gehirn direkt ins Heimkino durchgewinkt. Solche Bilder sind unproblematisch und müssen nicht bearbeitet und zensiert werden, denn sie haben mit Orientierung und Stabilisierung im realen Raum nicht das Geringste zu tun. Für das Gehirn ist ein Drohnenbild aus großer Höhe auf dem Display ein wahrer Spaziergang, wohingegen diejenigen Bilder, die es beim aktiven Gleitschirmfliegen zu verarbeiten hat, ihm als Kraftakt richtig Arbeit machen und zuweilen auch zu Schwindel führen können. Auf den aber fällt das Gehirn nicht herein, wenn ihm das Drohnenbild vor Augen kommt. Im Gegenteil. Es bleibt entspannt und verlangt mehr von solcher Bequemlichkeit, die den Menschen letztlich abhängig macht.

Besonders gravierend aber ist die Manipulierbarkeit des Gehirns. Es täuscht nicht nur den Menschen, wenn auch aus reinen Selbsterhaltungsgründen, nein, es lässt sich selbst auch täuschen. Auch die Neurowissenschaftler, Adepten einer wahren Modedisziplin, werden nicht müde vor der Verführbarkeit des Gehirns zu warnen, geben dem Affen Zucker und scheinen angesichts dessen Labilität selbst immer mehr in Verwirrung zu geraten. Selbst beim Shoppen ist der Mensch nicht bei Sinnen. Rabatte sorgen für Dopamin-Rausch. Schnäppchen bringen unser Gehirn zum Leuchten! behaupten sie allen Ernstes und schmeißen sich wie in Focus-Online an die Konsumenten ran, um ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen:

Beim Einkaufen wird unser Gehirn offenbar außer Kraft gesetzt. Dann landen viele Artikel im Einkaufswagen, die wir eigentlich gar nicht brauchen. Der rationale Kunde ist ein Mythos. Hirnforscher haben in die Köpfe der Verbraucher geschaut und spannende Entdeckungen gemacht: Der Hirnforscher Bernd Weber von der Universität Bonn hat Testpersonen in einem Kernspintomographen (MRT) verschiedene Produkte mit und ohne Rabattzeichen auf einer Videobrille vorgespielt. Die Bereiche des Gehirns, die stärker aktiviert werden, werden stärker durchblutet. Das Ergebnis des Tests: Sonderangebote bringen das Belohnungsnetzwerk im Vorderhirn regelrecht zum Leuchten. Gemma Calvert, Professorin für Neuroimaging an der University of Warwick, hat bei Untersuchungen außerdem festgestellt, dass sich in den Gehirnen gläubiger Probanden immer dann, wenn sie starke Marken wahrnahmen – ein iPhone, eine Rolex, einen Ferrari – die gleichen Aktivitäten abspielten wie beim Anblick religiöser Bilder. Es gab keinen erkennbaren Unterschied in der Reaktion der Gehirne auf starke Marken oder auf religiöse Kultgegenstände und Personen. Das erklärt vielleicht den Apple-Kult. Wie können wir uns gegen die Schnäppchen-Falle schützen? Sind wir deshalb dem Handel blind ausgeliefert? Nein. Gehen Sie raus aus dem Geschäft, einmal um den Block oder schlafen Sie eine Nacht darüber. Dann hat das Frontalhirn Zeit, wieder seine Kontrollfunktion hochzufahren.

Wie aber soll das Frontalhirn seine Kontrollfunktion wieder „hochfahren“, wo es doch ohnehin schlappzumachen droht? Im Frontalhirn – das auch der menschlichste Teil des Gehirns genannt wird – glauben die Neurowissenschaftler den Sitz der Persönlichkeit verortet und in dessen Area 24 das Selbstbewusstsein. Funktionsstörungen in diesem Hirnareal sind durch Aufmerksamkeitsdefizite, Konzentrationsstörungen, Interessensverlust, Gefühllosigkeit, sozialen Rückzug, Depression und Selbstzweifel charakterisiert – Symptome wohlgemerkt, die allesamt beim modernen Menschen zu beobachten sind.

Die Gründe hierfür reichen tief, greifen auf fatale Art und Weise ineinander und verstärken sich gegenseitig. Dabei ist die Schwächung der individuellen Persönlichkeitsstruktur wahrlich nicht neu. Sie reicht in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, in denen sich mit dem sogenannten Wirtschaftswunder ein Konsumverhalten etablierte, das sich nicht mehr nur auf Dinge, sondern zunehmend auch auf menschliche Qualitäten auszudehnen begann. Die Ära, sich vermeintlich alles kaufen zu können, hatte begonnen. Das war neu und führte mehr und mehr zur Veräußerlichung der Lebensinhalte, deren Ideale jetzt vorwiegend in den Werbeannoncen zu finden waren, denn in den Herzen der Menschen. Die Außenwelt begann die Innenwelt zu dominieren.

Mit der Einführung des Internets (= WORLD WIDE WEB) in den 90er-Jahren verstärkte sich diese Entwicklung und nahm rasant an Fahrt auf. Denn die neue Kommunikationsmaschine traf auf mental und kognitiv angeschlagene Gesellschaften, die dem Individualitätswahn und Konsumrausch seit Jahrzehnten bereits massenhaft verfallen waren und sich der Maschine umgehend bemächtigten. Und bald schon war aus diesem primär kommunikationsneutralen Instrument der Tummelplatz nichtiger Geschwätzigkeiten und selbstentblößender Selbstdarstellungsorgien geworden, durchsetzt von den hinterhältigen Strategien einer mit allen Wassern gewaschenen Konsumismusindustrie, die sich das Netz als weltweiten Absatzmarkt längst unter den Nagel gerissen hatte.

Dabei war der Zweck des WWW ursprünglich ein ganz anderer, denn der junge Informatiker Tim Berner-Lee wollte für die Physiker des CERN – das unter hoher Personalfluktuation litt – im März 1989 ein Informationsmanagement entwickeln: Ein universell verbundenes Informationssystem, „in dem Allgemeingültigkeit und Portabilität (=Übertragbarkeit von Programmen auf unterschiedliche Datenverarbeitungsanlagen) wichtiger sind als aufwendige Grafiktechnik oder komplexe Extras. ... Von Menschen lesbare Informationen, die ohne Einschränkungen verknüpft werden können." Verblüffenderweise aber hatte Berner-Lee die möglichen Konsequenzen seiner Maschine schon vorausgedacht: In einigen Jahren werde der Rest der Welt dieselben Probleme haben wie das CERN, schrieb er. Und dafür werde es dann vermutlich „eine kommerzielle Lösung geben".
Und richtig: die kommerzielle Lösung ist da. An die Kapitalisierung seiner Erfindung aber hatte die IT-Legende nicht gedacht. Und ebenso wenig an die Dummheit und Ignoranz, die Spießigkeit (=FACEBOOK), den Rassismus und die Menschenverachtung, die sich mittlerweile in seinem WWW breit gemacht hat und es, wenigstens in Teilen, auch zu beherrschen scheinen – das knallharte und schonungslose Spiegelbild der Gesellschaften, deren User es nutzen, um mit dabei zu sein. Und das kann jeder. Auch die gesellschaftlichen Extrembereiche – ob nun rechts oder links, denen einfach das Medium fehlte – kommen mehr denn je zum Vorschein und mischen sich unters Volk, das zu repräsentieren sie vorgeben. Statt verantwortungsbewusstem Austausch essentieller Informationen herrscht Chaos. Statt Überschaubarkeit und Transparenz, nichtiges Gequassel und Hass. Die Köpfe ersticken im Müll, die Meere im Plastik und der Himmel im Weltraum-Schrott. Schicksalsbehaftete Analogien!