KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

DAS ENDE? TEIL 3
9. Oktober 2017

Die besondere Affinität des Gehirns zur Welt des Cyberspace beruht – wie in Teil 2 beschrieben – primär auf gesunden kognitiven Prozessen, denen, ganz im Gegenteil zur herrschenden Auffassung, zunächst überhaupt nichts Pathologisches anhaftet. Diese Tatsache, so befremdlich sie auch sein mag, ist für die Epidemiologie der Internetabhängigkeit der Menschen, die im Netz ihrem Gehirn freien Lauf lassen, von zentraler Bedeutung und lässt deren Verhalten in einem ganz anderen Licht erscheinen. Sind sie doch eher Opfer ihres Gehirns, statt es im Zaum zu halten oder es gar kontrollieren zu können. Dem Gehirn ist nicht zu trauen – es tendiert dazu, ein Eigenleben zu führen.

Es ist die auf Virtualität beruhende Weltrepräsentanz, mit der sowohl Gehirn als auch Cyberspace operieren und beide auf so fatale Art und Weise zusammenschweißt: Denn ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Realität sind die kognitiven Hirnprozesse in den irrealen Sphären des Cyberspace kaum gefordert und haben leichtes Spiel – in ihnen gibt es nichts, das ins Virtuelle transformiert werden müsste: Schein und Sein sind identisch, die Dinge gestanzt und eindimensional und deren Sinn täuschend bunt, aber schal – eine seichte Welt ohne Geheimnis. Das von Hause aus träge Gehirn hat sich in der ihm extrem affinen Welt der Algorithmen eingerichtet und baut sich konsequenterweise neuroplastisch um.

Allein schon am BLICK DES USERS werden diese Veränderungen rein äußerlich besonders deutlich. Hatte man früher noch behauptet, die Augen des Menschen seien der Spiegel der Seele, so findet sich heutzutage im Userblick kaum mehr Beseeltes wieder: Dem einst aufmerksam oder ziellos durch die Umgebung schweifende Blick ist die Welt draußen aus dem Fokus geraten, stur gesenkt und wie abwesend aufs Display des Smartphones fixiert – dem Graphical User Interface, das der IT-Technologie zufolge genau jene Stelle und Ort markiert, an welcher der User mit seiner Weltmaschine in Kontakt treten kann. – Das DISPLAY, die Pforte zur Userrealität, von Panzerglas gedeckelt und flach wie eine Scheibe – die Chimäre eines Orts.

Die grellbunte, mit Icons übersäte Benutzerschnittstelle muss natürlich auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Users zugeschnitten sein, sonst kann er, der zunehmend Überforderte, seinen Weg in die ersehnten Sphären nicht finden. Um ihn nicht hängen zu lassen, haben die IT-Experten eigens für ihn das sogenannte usability engineering ins Leben gerufen und überschütten den Bedürftigen mit immer wieder neuen und noch attraktiveren Produktsensationen – dem User gehen die Augen über:

Das Highlight ist das große, nahezu randlose DISPLAY. Bereits der Vorgänger sorgte mit seinem DISPLAY, einigen innovativen Techniken und der ungewöhnlichen Platzierung der Selfie-Cam für Aufsehen. So hat das erste etwa einen Ultraschall-Näherungssensor und einen Speziallautsprecher, der unter dem DISPLAY liegt. Diese Technik ist einzigartig und ermöglicht das radikale Design, das diesen Trend fortführt, im Inneren aber mit verbesserter Hardware überrascht. So lässt sich das Gerät mit den aktuell schnellsten Mobilprozessoren nicht lumpen. Das DISPLAY fällt mit 5,99 Zoll kleiner als das des Vorgängers aus, es hat ein Seitenverhältnis von 18:9 und löst mit 2.160 x 1.080 Pixel auf. An drei Seiten ist es randlos und auch an der Unterseite hat sich die Breite des Rahmens um 12 Prozent gegenüber dem Vorgänger verringert. In diesem unteren Teil des DISPLAY-Rahmens sind die Front-Kamera und die Benachrichtigungs-LED verbaut. Das ist sicherlich gewöhnungsbedürftig, bedeutet aber, dass das Gerät ohne die bekannte Lasche im oberen Teil des DISPLAYS auskommt - optisch auf jeden Fall ein Vorteil. Die Kamera schießt Fotos in 12 Megapixel. Der Arbeitsspeicher wird 6 GByte groß sein, der Datenspeicher hat entweder 64, 128 oder 256 GByte. Zudem verfügt der Akku über eine Kapazität von 3.400 mAh ...

 ... und so weiter und so fort. Aber was soll’s? Ein leichtes Tippen aufs Panzerglas seines berührungsempfindlichen Handys genügt dem User jedenfalls, um sich erst einmal getrost auf den Weg zu machen. Das Glas – auch GORILLA GLASS genannt – soll mit seiner Version 5 bereits 80% aller Stürze aus 1,6 Metern Höhe auf harte Oberflächen überstehen. Na also, welcher User will sich schon eine SPIDER-APP einhandeln – ein Netz auf dem Netz? Aber was soll’s? Auf in die unendlichen Weiten der Verheißung, ein sachtes Anklopfen genügt – SESAM ÖFFNE DICH!

Das Cyberuniversum aber ist kein grenzenloser Raum, für den der User es hält, denn wie das physikalische, so ist auch das virtuelle begrenzt. Mit dem eklatanten Unterschied allerdings, dass es im Vergleich zum Kosmos im Cyberspace nichts Natürliches oder Fremdes, geschweige denn Mysteriöses zu entdecken gibt, wie beispielsweise ein schwarzes Loch, eine Supernova oder eine Außerirdische Intelligenz, nein, im Cyberspace sammelt sich ausschließlich Menschliches an – allzu Menschliches, und zwar jeden Moment mehr. Wie über eine unvorstellbar große Müllkippe, über die sich Myriaden von Artefakte menschlichen Denkens und Fühlens, Wollens und Meinens, Hassens und Irrens ergießen – in einen Raum. der eigentlich keiner ist. In dessen algorithmischen Landschaften führt nirgends ein Weg in unbekanntes Terrain, vielmehr nur immer wieder dorthin, wo andere längst waren, animiert von Links und Hyperlinks – ein irre gesponnenes Netz, in dem sich ausnahmslos das verfängt, was vom User in die Megamaschine hineingestopft bzw. „eingestellt“ wird. Eine WELTKOMMUNIKATIONSKONSUMMASCHINE, wie er vermeint, voller FRIENDS und FOLLOWERS, SHARES und LIKES, vor allem aber überbordend vor grellbunten Verheißungen, die dem User die Erfüllung seiner Begierden und Obsessionen verspricht – eine wirklich freie Welt, in welcher der Pornomarkt boomt wie nirgends sonst. Manche können schon nicht mehr anders.

In Wahrheit aber ist der User im Cyberspace allein und auf sich zurückgeworfen. Ist das SELFIE nicht der Beweis dafür? Der alles Wollende spiegelt sich im Netz ohne es zu wollen und hinterlässt doch seine Spuren – sein PROFIL ist begehrt. Eine digitale Usermonade, die von sozialen Medien träumend Gemeinschaftlichkeit halluziniert. Gefangen in ihrem illusionären Wahn und abgeschottet von der Realität während Natur und Kosmos in der CLOUD verdunsten.

Einige Stichpunkte zur Situation (zitiert aus einem Artikel in Spektrum der Wissenschaft. Juliette Irmer: Warum wird uns die Natur immer fremder?)

Heute verbringen Kinder einen großen Teil ihrer Zeit in Innenräumen. Mit der Natur kommen sie kaum noch in Berührung. Der Trend scheint eindeutig.

Jugendreport Natur. 7. Report 2016. Die Distanz zur Natur wird immer größer. Grundlegendes Wissen geht verloren. 35 Prozent der Befragten wussten nicht, wo die Sonne aufgeht. Ein Fünftel kreuzte "Norden" an. Nicht wenige gehen davon aus, dass man tropische Früchte aus dem Supermarkt im Wald draußen sammeln kann.

Im deutschsprachigen Raum wird das Thema Natur im Alltag kaum wahrgenommen. In Amerika und England hingegen gibt es ein wachsendes Bewusstsein dafür und eine Vielzahl von Studien – NATURE DEFICIT DISORDER. Schon die Elterngeneration hat wichtige Verbindungen zur Natur verloren und kann sie daher auch nicht mehr für ihren Nachwuchs knüpfen. Viele Kinder kennen heute nur noch wenige einheimische Tierarten. Naturbegriffe verschwinden auch aus Songtexten, Romanen und Filmen.

Laut einer Studie der Vereinten Nationen leben mittlerweile 75 Prozent der Bevölkerung in den Industriestaaten in Städten, eine Tendenz, die sich in den nächsten Jahrzehnten verstärken wird. Und wer in der Stadt aufwächst, hat selten die Möglichkeit, Baumhütten zu bauen und Tiere zu beobachten. Früher war es selbstverständlich, sich als Kind ein Einmachglas mit Kaulquappen zu holen und die Umwandlung zum Frosch zu beobachten. Heute macht man sich damit strafbar. Wenn sich aber niemand mehr für die belebte Natur interessiert, woher kommen dann die zukünftigen Naturschützer? So sterben nicht nur Insekten und Vögel aus, sondern auch diejenigen, die sie auseinanderhalten können. Soweit der Bericht.

Im Gegensatz zur natürlichen Umgebung besitzt der Cyberspace keine Topografie. Er ist strukturlos und diffus. Ein virtueller, sich praktisch jeder Vorstellung entziehender Raum, der am ehesten vielleicht an eine riesige Disk erinnert, die dem User den Kopf abtrennt. Im schier endlosen Wirrwarr der ihrer Körperlichkeit und Bedeutung entkleideten Dinge ist er jedenfalls aufgeschmissen – sein Orientierungssinn hat keine Chance. Wo sind die GUIDES, die APPS und LINKS?

Aber weiß der User eigentlich immer so genau, wohin er im Netz will? Voll innerer Unruhe getrieben von Langeweile und Ablenkungssucht. Surft er nicht am liebsten durchs Netz wenn er ehrlich ist? Durch die Sphären seiner neu gewonnenen Realität zu treiben, ist seine klammheimliche Sucht – ein Besinnungsloser, der bald vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Sein Gehirn verführt ihn dazu – was heißt hier schon Baum, was Wald?

Menschlich gesehen ist der User ein eher schwächlicher Typ, droht ihm doch das Leben draußen abhanden zu kommen, das ihm schnöde zum Alltagsallerlei zusammenschrumpft. Ein Tag gleicht dem anderen – und täglich grüßt das Murmeltier. Immer weniger findet sich der Unsichere in seiner in die Jahre gekommenen Realität zurecht, weil er bis zum Kopf im Cyberspace feststeckt. Nur damit ihm nichts entgeht. Aber nicht nur im Cyberspace auch im Öffentlichen Raum ist der Bemitleidenswerte auf Unterstützung angewiesen. Ohne NAVI kann er’s beispielsweise vergessen. Der entsinnlichte Sinn – der DIGITALISIERTE BLICK .

Aber auch sich selbst gegenüber fremdelt der User. Dass sich sein Wahrnehmen, Denken und Erinnerungsvermögen verändern, scheint er am allerwenigsten mitzubekommen. Selbst sein Innerstes ist affiziert – seine Gefühle, ja sein Wesen, der User aber will es nicht wahrhaben. Längst hat er sich ans Seichte des Virtuellen gewöhnt das ihn innerlich verkümmern lässt.

Ohne Netz ist der User ein eher unaufmerksamer und hibbeliger Zeitgenosse. Latent unsicher und misstrauisch. Vor allem der äußeren Welt gegenüber, die er mit Argusaugen belinst, wenn er schon mal hinschauen muss. Im Netz aber ist er für gewöhnlich im Rausch und deshalb auch leicht auf die falsche Seite zu ziehen. Weniger politisch oder gesellschaftlich allerdings, sondern vielmehr kommerziell: Der User konsumiert ums Verrecken gern und lässt sich dabei rasch über den Tisch ziehen, der Rest ist ihm egal. PARSHIP – keine Chance soll ihm entgehen. Aber verdammt, die schnöde Realität!

Just dies ist der Augenblick, in dem die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ die Szene betritt. Maschinen also, die dem User versprechen, ihm seine Lebenstüchtigkeit zurückzugeben und dabei helfen sollen, seine Alltagsschwächen zu kompensieren: Der Benutzer wird zum Benutzten. Freiwillig und ohne mit der Wimper zu zucken. Was soll er auch machen? Ohne Maschinen ist er schlichtweg verloren – das Einfallstor für den globalen Kommerz, der den Hilflosen durchs Leben schleust und abkassiert. Ein Teufelskreis, der den vom Turbokapitalismus schon ohnehin Geschwächten endgültig in die kognitive Verwahrlosung treibt und ihn in seinen Filterblasen zappeln lässt. Wer weiß, ob er sich daraus je wieder befreit?

Fortsetzung folgt