GEDANKEN / 2
TELEPATHIE FÜR ALLE

11. Januar 2017

Gedanken können etwas Wunderbares sein, schrieb ich hier im Dezember 2014 über die Inspiration. Vor allem dann, wenn sie einem so mir nichts, dir nichts in den Kopf schießen und man sich verwundert fragt, woher man sie nur hat. Solch befremdliche und wie aus jedem Zusammenhang gerissenen Gedanken, die den Anschein erwecken, als seien sie gar nicht die eigenen, kennt jeder. Und doch, von ihnen Notiz zu nehmen und sich auf sie einzulassen scheint aus der Mode gekommen, setzt man heutzutage doch auf Maschine statt auf Kopf.

Jetzt aber haben sich die Dinge schlagartig geändert und zwingen mich dazu, vor solchen Gedanken eindrücklich zu warnen, denn sie könnten tatsächlich fremde sein und sich nicht nur so anfühlen. Facebook arbeitet nämlich an einer neuen Technologie, die es seinen Usern ermöglichen soll, eigene Gedanken ganz unmittelbar und sozusagen drahtlos mit Freunden zu teilen. Direkt von Gehirn zu Gehirn, und ohne sich dazu auch nur für einen Moment vor den PC hocken zu müssen. Wir werden einfach an etwas denken können und unsere Freunde werden im gleichem Moment in der Lage sein, diese Gedanken mitzuerleben, schwärmt der Konzernchef und verspricht seinen Kunden damit nichts anderes als die TELEPATHIE.

Mir wird’s schwarz vor Augen, jetzt haben wir den Salat. Ab morgen gibt es Facebook also via Gedankenstrom, mir kribbelt es jetzt schon unter der Schädeldecke. Dank Telepathie, der Kunst des Gedankenlesens, zu welcher der Begriff Technologie bislang wirklich nicht passen wollte, glaubten doch nur Esoteriker wirklich an die Sache. Dabei räumten sie allerdings ein, dass diese Fähigkeit lediglich denjenigen vorbehalten sei, die übersinnliche Fähigkeiten besäßen. Gestandene Wissenschaftler hingegen schüttelten nur sarkastisch grinsend den Kopf, nannten das Ganze ein Psi-Phänom, was in deren Sprache nichts anderes als bekloppt bedeutet, und überließen es der Parapsychologie sich mit diesem Humbug herumzuschlagen. Wobei die James Randi Educational Foundation, die sich kritisch mit Psi-Phänomenen auseinandersetzt, ein Preisgeld von einer Million US-Dollar für denjenigen aussetzt, der unter wissenschaftlichen Bedingungen paranormale Fähigkeiten unter Beweis stellen kann – man weiß ja nie! Die Geheimdienste jedoch waren an diesem Gezänk nie wirklich richtig interessiert. Den Gedanken der telepathischen Nachrichtenübermittlung fanden sie einfach viel zu verlockend. So auch der KGB oder die CIA, die schon seit den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts intensiv an der Gedankenübertragung arbeiten.

Schon 1960 wurde in der französischen Zeitschrift „Science et Vie“ behauptet, die Amerikaner hätten telepathischen Kontakt zu einem getauchten U-Boot hergestellt. Der Nautilus nämlich, dem ersten nuklear angetriebenen U-Boot der Welt. Angeblich fanden die Versuche während der Unterquerung des Nordpols im August 1958 statt. Die Sowjet-Offiziellen waren mächtig irritiert: sie fragten jeden Besucher aus dem Westen, was es denn mit dem Gerücht auf sich habe. Die Amerikaner konterten mit der Gegenfrage, ob es denn in der Sowjetunion noch Gespenster gäbe und ob es stimme, dass einer Moskauerin der Geist Lenins erschienen sei und sie diesen über Stalins wahren Charakter aufgeklärt habe?

Jetzt aber hat Facebook die Katze aus dem Sack gelassen, das schier Unmögliche möglich gemacht und damit ein wahres Wunder vollbracht: Denn quasi über Nacht hat der Megakonzern aus einem diffusen esoterischen Hirnnebel eine praktikable Technologie entwickelt, die er künftig nicht nur einigen wenigen, sondern Milliarden von Facebookern zur Verfügung stellen will. Telepathie für alle! lautet die Devise. Ein Horrorszenario, das Schlimmstes befürchten lässt.

Denn das heißt ja, dass wir bald unseren Gedanken nicht mehr werden vertrauen dürfen – unfähig zwischen eigenen und fremden zu unterscheiden. Und das nur, weil irgendein Userarschloch einem gerade im Hirn herumfuhrwerkt und im Stirnlappen ein Posting abgesetzt hat. Folglich ist es nicht unvernünftig, vor allem spontane Gedanken erst einmal aufmerksam von allen Seiten auf ihre Originalität hin zu überprüfen.

Gedanken wie Ich liebe Dich! könnte man natürlich sofort als fremd dingfest machen. Wer sagt schon Ich liebe Dich! zu sich? Es sei denn, er ist Narzisst und denkt gerne so. Auch einen Gedanken wie Ach mein Lieber, ich hoffe, Du denkst so oft an mich wie ich an Dich? Entschuldige die Frage, sie ist mir nur gerade so durch den Kopf gegangen. Aber denk bloß nicht, dass ich dich unter Druck setzen will. Es war nur ein Gedanke. Ich jedenfalls denk an dich, hatte gerade dein Bild vor Augen! könnte auf Anhieb identifiziert werden. Wer denkt schon so? Nur Zwanghafte. Allerdings ginge einem der Schwachsinn nicht so schnell wieder aus dem Kopf, was einem mentalen Hausfriedensbruch gleich käme. Und apropos ... hatte gerade dein Bild vor Augen! Plant Facebook jetzt unter der Hand etwa auch noch die Bildertelepathie? Dann würde ich durchdrehen. Ständig fremde Bilder im Kopf hält doch kein Mensch aus!

Und wer sagt denn, dass die User die Technik auch wirklich einigermaßen professionell beherrschen? Unter den Milliarden von Facebookern gibt es sicher auch eine Menge Deppen, die nur saudumme Gedanken durch die Gegend telepathieren und sich auch noch in der Adresse irren. Nichts anderes als Spam-Gedanken also, gegen die es allerdings keine Firewall gäbe. Ein Albtraum! Völlig ungeschützt diesen sogenannten Gedanken ausgesetzt.

Die Gedanken sind frei! Dieser Gedanke bekäme augenblicklich eine nachgerade apokalyptische Dimension. Man würde sich auf einmal beim Wunsch ertappen, nicht mehr denken zu müssen. Wahnsinn!