DER NUSSBAUM

29. September 2014

Den Nussbaum, der in unserem Garten steht, habe ich zu meiner Konfirmation gepflanzt. Da war ich vierzehn, und der Baum gerade mal ein paar Monate alt, aber praktisch schon so groß wie ich. Jahre später bin ich dann aus der Kirche ausgetreten. Der Baum aber ist unbeirrt weitergewachsen, hat seine Äste und Zweige kraftvoll hoch in den Himmel gereckt und sich mit den Jahren eine imposante, weit ausladende Kontur verliehen. In seiner prachtvollen Gestalt, in der er mir heute gegenübersteht, wäre er in vormaliger Zeit – sagen wir in der Romantik zum Beispiel – ganz selbstverständlich der Anlass zu einem wunderschönen Gedicht gewesen.

Manchmal rauscht der Nussbaum nachts mit seinen Blättern, wenn ich unter ihm mit hinterm Kopf verschränkten Armen im Gras liege und durch seine ins Nachtdunkle sich verflüchtigenden Verzweigungen nach oben blinzele, wo ich zwischen schwarzgrünen Blätterschatten winzige Ausschnitte des Firmaments erahne. Dort funkelt und glitzert es. Aber sind es die Sterne oder die Blätter, die dort oben so eigentümlich schimmern und leuchten, frage ich mich verwundert, während mir die Kirlian-Fotografie in den Sinn kommt.

Gestern war Vollmond und der Nachthimmel sternenklar. Und wieder rauschte der Baum obwohl sich kein Lüftchen regte. Der will sich bemerkbar machen, hatte ich das Gefühl. Und ohne zu zögern atme ich tief ein und blase meine Luft mit gespitzten Lippen sachte hoch ins Ungefähre. Auch ich will auf mich aufmerksam machen. Der Baum aber reagiert nicht und verharrt regungslos. Kein Blättchen rührt sich. Da durchfährt mich auf einmal ein Heidenschreck: Was wäre, wenn er geantwortet hätte, der Baum, frage ich mich ängstlich. Hätte ich denn die Courage, mit ihm zu sprechen?

In der Romantik hätte man sich so einen Unsinn nicht gefragt. Spontan erinnere ich mich an ein Gedicht, das den Nussbaum sogar im Titel trägt. Da sprechen dessen Blüten, wird darin behauptet. „Sie flüstern“, schreibt der Dichter. Und weiter: „Wer mag verstehn so gar leise Weis?“

Ich, denke ich trotzig und bleibe mit klopfendem Herz regungslos liegen so wie der Baum es mir gerade vorgemacht hat, warte ab und übe mich in Geduld. Wenn es noch mal rauscht, werde ich antworten. Und das so deutlich und unmissverständlich wie möglich, schwöre ich mir, um mir Mut zu machen.

Da rauscht es erneut. Nach einer halben Ewigkeit allerdings, muss ich sagen. So als hätte der Baum sehr lange darüber nachgedacht, ob er mir nun antworten solle oder nicht. Schließlich hätte ich ja vor lauter Schreck einen Herzanfall erleiden und sterben können. Oder wäre auf der Stelle verrückt geworden, leichtsinnig die Geister herausfordernd. Aber offenbar ist der Baum ein Menschenfreund und meint es gut mit mir. Schließlich bin ich es ja, der ihn gepflanzt hat.

Was würde man nun sagen, wenn ich behaupten würde, der Baum und ich hätten nach dieser äußerst behutsamen Kontaktaufnahme tatsächlich begonnen, ein anregendes Gespräch zu führen. Bis tief in die Nacht hinein vielleicht. Wer weiß? Manche würden den Kopf schütteln, mich der Spinnerei bezichtigen und rasch zur Tagesordnung übergehen. Die Medien hingegen würden mir die Tür eintreten und mich auspressen wie eine Zitrone. Da bin ich mir sicher. Mann spricht mit Baum! würden sie titeln. Die Klicks gingen ins Unermessliche.

Aber statt zu antworten, könnte man ja auch die Gegenfrage stellen. Und es einfach der Phantasie der Wissbegierigen überlassen, worüber Baum und Mensch so reden, wenn sich dazu der Anlass bietet. Vermutlich kämen die Leute schnell auf die Idee, dass es sich bei solch einer Unterhaltung gar nicht um eine richtige Unterhaltung drehen könne. Welche Sprache wäre es denn, derer man sich bediente, um sich mit einem Baum ins Benehmen zu setzen?

Also müsste man sich erst einmal darum bemühen, das Idiom herauszufinden, in dem man sich verständlich machte. Und alles daran setzen, das Blätterrauschen in seiner ihm eigenen Grammatik und  Semantik zu begreifen. Wahrscheinlich ginge das nur über die Phonetik, die Blättergeräusche also, die man im Ohr zum Klingen bringen müsste um zu verstehen. Kurzum: Man müsste sich anschicken, den Ausdruck des Geraschels und Gewispers zumindest zu erahnen, um dem Baum eine Gesprächsbrücke zu bauen. So wäre das Ganze im Grunde also nichts anderes als ein beinharter Sprachunterricht, den der Baum einem erteilte. Und das natürlich ohne Buch. Und ohne audiovisuelles Lernprogramm. Umgekehrt ginge das leider nicht! Denn wie sollte der Baum so rasch die menschliche Sprache erlernen? Das dauere ja bis zum Sankt Nimmerleinstag. Dann wäre man längst unterm Baum begraben und könnte das Gespräch vergessen.

Konsequenterweise stellt man sich also erstmal aufs Rauschen ein und auf nichts sonst. Und versucht aufmerksamen Sinnes wenigstens das Einfachste herauszufinden. „Ja“ und „Nein“ zum Beispiel. Ein prononciertes, also kurzes und heftiges Rauschen bedeutet Nein, soviel ist klar. Und ein Ja ist sicher ein Ja, wenn es überaus sachte im Baum raschelt und so weich im Ohr nachklingt als hätte man sein Geheimnis erraten. Denn wer sagt denn, dass der Baum kein Herz hat? Oder keine Seele? Solche Empfindungen muss man beim Schüler voraussetzen dürfen. Sonst wird aus der Sache nichts. Und die wirklich Begabten, die sich von ihren Gefühlen leiten lassen und etwas von Verschränkung verstehen, werden rasch und ohne große Schwierigkeiten verstehen und es auf Anhieb leichter haben.

Im nächsten Schritt käme es dann auf die Zwischentöne an. So wie die Eskimos unzählige Worte für „weiß“ haben, hat das Blätterrauschen des Baums  hundertprozentig ebensolche Zwischentöne, für die Farbe Grün beispielsweise. Schließlich handelt es sich ja um einen Baum.

Mit Wörtern aber wird man sich insgesamt schwer tun. Obwohl: ein kurzes Wort wie „Baum“ vermutlich drin ist im Erfahrungsschatz. Es kommt da eben ganz auf den Empfänger der Botschaft an. Und wer das entsprechende Rauschen richtig nimmt und wirklich „Baum“ versteht, weil er den warmen und eigenbezüglichen Unterton nicht überhört, ist einen gewaltigen Schritt weiter in seiner Kommunikationsfähigkeit. Denn „Baum“ heißt selbstverständlich auch „Ich“. In dieser Weise mit der Blättersprache allmählich vertraut, käme man sicher rasch weiter. Und könnte dann irgendwann auch mal nachfragen, wenn man auf Anhieb nicht versteht.

Gesetzt den Fall aber, man bräuchte ein solches Lernprogramm gar nicht und verstünde auf Anhieb. Müsste sich also nur hingeben, Natur und Dingen vertrauen und sich ein Herz nehmen, vor allem den Mund zu halten. Schließlich will man mit dem Baum ja ins Gespräch kommen und keinen Monolog führen. Also spricht man besser mithilfe seiner Gedanken, die sich wie selbstverständlich mit dem Baum austauschen. Ein Verstehen ohne Worte bedeutete das dann, so wie man es von der Liebe her kennt. Dann werden die Dinge beredt, weil man mit ihnen eins geworden ist. Ein Smartphone in der Hand würde auf der Stelle implodieren. Und eine geeignete App ist nicht in Sicht.